Überraschende Täter: Forscher haben herausgefunden, was an einer Schriftrolle aus den geheimen Archiven des Vatikans frisst. Demnach stammen die Schäden und dunkelroten Flecken im mittelalterlichen Pergament von ungewöhnlichen Mikroben: salzliebenden Bakterien, die normalerweise im Meer vorkommen. Weil die Tierhäute einst mit Salz haltbar gemacht wurden, finden die Mikroben optimale Bedingungen vor – und zersetzen das Kollagen aus dem Pergament.
Viele frühe Schriften sind nicht auf Papier geschrieben, sondern auf Pergament – glatt geschabten und speziell konservierten Tierhäuten. Als Schriftrollen oder zu Büchern gebundene Manuskripte haben viele dieser Pergamente bis heute überdauert, darunter mittelalterliche Bibeltexte, Rechtsschriften und sogar antike Schriftrollen.
Pergamente mit „Flecken-Krankheit“
Doch an einigen dieser historischen Pergamente nagt eine geheimnisvolle Krankheit: Sie bekommen vor allem an ihren Außenseiten und den Rändern dunkelrote Flecken. Diese überdecken nicht nur die Schrift, sondern zersetzen auch das Material selbst. Eine der von dieser „Flecken-Krankheit“ betroffenen Dokumente ist eine Schriftrolle aus dem Jahr 1244, die heute in den geheimen Archiven des Vatikans aufbewahrt wird.
Auf diesem fünf Meter langen Pergament ist die Geschichte des Laurentius Loricatus niedergeschrieben. Dieser hatte als junger Soldat versehentlich einen Mann getötet und verbrachte aus Reue den Rest seines Lebens als frommer Einsiedler in einer Höhle in der Nähe von Rom. In der Schriftrolle listeten mittelalterliche Kleriker die möglichen Argumente für eine Seligsprechung des Loricatus auf.
Wer ist der „Täter“?
Inzwischen jedoch sind einige Passagen des Textes kaum mehr zu lesen, denn auch diese Schriftrolle ist stellenweise von den rätselhaften roten Flecken übersät, wie Luciana Migliore von der Tor Vergata Universität in Rom und ihre Kollegen berichten. Zwar scheint die Ausbreitung der zerstörerischen Flecken dank der kontrollierten Bedingungen in den Vatikan-Archiven weitgehend gestoppt, doch was diese Flecken in diesem und anderen Pergamenten verursacht, blieb bisher trotz vieler Untersuchungen unbekannt.
Um das Rätsel zu lösen, haben die Forscher sich nun mit gleich drei hochmodernen Analysemethoden auf Tätersuche gemacht. Mithilfe der laserbasierten Raman-Spektroskopie analysierten sie die chemische Zusammensetzung der Pigmentflecken. Die Schäden am Kollagen untersuchten sie mit einer speziellen Durchleuchtungstechnik und nach möglichen mikrobiellen Tätern fahndeten sie, indem sie Proben des Materials einer umfassenden Genomanalyse unterzogen.
Meeresmikroben im Pergament
Das Ergebnis: Die Gendaten enthüllten, dass in den roten Flecken tatsächlich andere Mikroben vorkamen als auf dem gesunden Rest des Pergaments. Das legte nahe, dass es sich bei den „Tätern“ um Bakterien handelt. Überraschend aber war, welche Bakterien die Forscher in den Flecken entdeckten: Dort tummelten sich unzählige salzliebende Meeresbakterien aus der Gruppe der sogenannten Gammaproteobacteria.
Dass diese Mikroben die Urheber der roten Flecken waren, bestätigten die Pigment-Analysen: Die rote Farbe geht auf zwei Rhodopsin-Farbstoffe zurück, die von Meeresbakterien und von marinen Archaeen, den sogenannten Halobacteria, produziert werden, wie die Forscher berichten. Die Durchleuchtung des Pergaments ergab zudem, dass die Mikroben vor allem die feineren Collagenfasern des Materials zersetzt hatten, so dass an den beschädigten Stellen nur die dicksten Fasern übriggeblieben waren.
Mit Salz haltbar bemacht
Wie aber kommen Meeresbakterien in diese Schriftrolle – und warum konnten sie sich darin vermehren? Des Rätsels Lösung liegt in der Herstellungsweise des Pergaments, wie die Forscher erklären. Denn im Süden Europas und vor allem in den Küstengebieten wurden die Tierhäute meist mit einem Mittel haltbar gemacht, dass dort reichlich vorhanden war: Salz.
„Die Häute wurden über mehrere Tage lang in Salzlauge getaucht, so dass die Salzionen tief in die Haut eindringen konnten“, schildern Migliore und ihre Kollegen das Verfahren. Anschließend wurden die Häute aufgespannt, geschabt und getrocknet. Diese Behandlung unterband das Wachstum von Fäulnisbakterien und stoppte damit die Zersetzung des Materials.
Zerstörung in zwei Schritten
Doch für salzliebende Mikroben aus der Lauge bot das frische, salzhaltige Pergament einen geradezu optimalen Lebensraum. Die Meeresbakterien und Archaeen überlebten selbst das Trocknen und vermehrten sich immer dann, wenn das Pergament in feuchter Umgebung lag – wie in den mittelalterlichen Klöstern oft der Fall.
Die Collagen- Schäden und die Flecken entstanden dabei in einem zweischrittigen Prozess, wie die Wissenschaftler herausfanden. Solange das Pergament noch sehr salzhaltig war und in feuchtwarmer Umgebung lag, vermehrten sich vor allem die Halobacteria. Diese Archaeen begannen daher als erste, das Collagen des Pergaments zu zersetzen.
In kalten Wintern jedoch und in Phasen, in denen das Pergament mehr als 15 Prozent Wasser aufnahm, war es für die Archaeen nicht mehr salzig genug. Sie zerplatzten und setzten dabei das charakteristische rote Pigment frei, während sich nun die Gammaproteobacteria vermehrten. Diese setzten, wenn auch in geringerem Maße, das Zerstörungswerk fort.
„Potenzielle Zeitbombe“
Hauptverursacher der rätselhaften Fleckenkrankheit sind demnach vor allem die Halobacteria, so das Fazit der Wissenschaftler. Sie könnten auch eine Gefahr für viele andere, scheinbar noch unberührte Manuskripte bedeuten. „Weil sie für enorme Zeiträume überdauern können, sind die Halobacteria eine potenzielle ‚Zeitbombe‘ in alten Pergamenten“, warnen Migliore und ihre Kollegen. (Scientific Reports, 2017; doi: 10.1038/s41598-017-05398-7)
(Nature, 08.09.2017 – NPO)