„Phantombild“ der Urblüte: Forscher haben erstmals rekonstruiert, wie der Urahn aller heutigen Blütenpflanzen aussah. Diese allererste Blüte war demnach ein Zwitter mit sowohl weiblichen als auch männlichen Organen. Außerdem besaß sie mindestens zehn Blütenblätter, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature Communications“ berichten. Überraschend auch: Die Blütenblätter sind in mehreren Kreisen angeordnet, nicht in Spiralen wie bisher angenommen.
Die Erfindung der Blüte war ein echter Meilenstein der Evolution. Denn mit ihr veränderte sich die Pflanzenwelt der Erde grundlegend und die Blütenpflanzen dominieren seither im Pflanzenreich. Heute gehören rund 90 Prozent der Landpflanzen zu den Angiospermen – vom unscheinbaren Kraut bis zur gewaltigen Eiche. Wann jedoch die Natur die Blüte „erfand“, ist bisher nur grob bekannt: Fossile Pollenkörner und Genvergleiche deuten auf eine Entstehung vor 140 bis 250 Millionen Jahren hin.
792 Arten und 27 Merkmale
Doch wie die Blüten dieser allerersten Blumen aussahen, war bisher unbekannt. Jetzt hat ein internationales Team um Hervé Sauquet von der Universität Paris-Süd der allerersten Urblüte erstmals ein Gesicht gegeben. Sie rekonstruierten das Aussehen der Urblüte, indem sie die Verbreitung von 27 wichtigen Blütenmerkmalen bei existierenden und fossilen Angiospermen zusammentrugen.
Insgesamt werteten die Forscher dafür 13.444 Merkmalsdaten von 792 Blütenpflanzenarten aus. Aus der Verteilung dieser Merkmale und den Verwandtschaftsverhältnissen der Pflanzen ermittelten sie die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein bestimmtes Merkmal schon beim letzten gemeinsamen Vorfahren vorhanden war. Sie erzeugten so gewissermaßen eine Art Phantombild der Urblüte.
Einzigartige Kombination
Das Ergebnis ist ein 3D-Modell, das erstmals die allererste Blüte zeigt – und dabei einiges Neues enthüllt. „Trotz einiger Ähnlichkeiten mit heute existierenden Blumen gibt es keine lebende Blütenpflanzenart, die exakt diese Kombination von Merkmalen teilt“, konstatieren Sauquet und seine Kollegen. Selbst die als sehr ursprünglich geltenden Seerosenartigen und der nur auf Neukaledonien vorkommende Amborella-Strauch unterscheiden sich schon klar von ihrem Urahn.
Gleichzeitig wirft die Rekonstruktion einige bisherige Vorstellungen über den Urahn der Blütenpflanzen über den Haufen. „Zu unserer Überraschung stellte sich heraus, dass unser Modell der ursprünglichen Blüte mit keiner der früheren vorgeschlagenen Ideen und Hypothesen übereinstimmte“, erklärt Koautor Jürg Schönenberger von der Universität Wien.
Urblüte war ein Zwitter
So war die ursprüngliche Blüte zweigeschlechtlich – ein Zwitter: Sie besaß sowohl männliche als auch weibliche Fortpflanzungsorgane. Die mindestens zehn pollentragenden Staubblätterumgaben dabei die fünf weiblichen Fruchtblätter. Diese spiralig angeordneten Samenanlagen bildeten keinen verwachsenen Fruchtknoten, wie bei vielen heutigen Blüten der Fall, sondern standen einzeln, wie die Forscher berichten.
Zwar wurde die Zweigeschlechtlichkeit schon länger als ursprüngliche Methode der Fortpflanzung bei den Angiospermen diskutiert, aber einig waren sich die Botaniker nicht. Denn viele sehr alte Blütenpflanzen tragen eingeschlechtliche Blüten, bei Vorläufern der Angiospermen wie Nadelbäumen und Palmfarnen sind die Geschlechter sogar auf verschiedene Pflanzen verteilt.
Kreise statt Spiralen
Das „Phantombild“ zeigt zudem, dass die radiärsymmetrische Hülle der Urblüte aus mindestens zehn einheitlich aussehenden Blütenblättern bestand. Sie waren demnach noch nicht in grüne Kelch- und bunte Kronblätter differenziert. Überraschend ist dabei die Anordnung der Blütenblätter: Sie wachsen nicht in einer Spirale, sondern in drei konzentrischen Kreisen, wie das Modell enthüllte.
„Dieses Ergebnis ist besonders bedeutend, weil viele Botaniker noch immer der Auffassung sind, dass in der ursprünglichen Blüte alle Organe spiralig angeordnet waren, ähnlich wie die Samenschuppen eines Kiefernzapfens“, erklärt Schönenberger. „Dies stellt vieles, was früher über die Evolution der Blüte geschrieben und gelehrt wurde, auf den Kopf“.
Vom Urahn zur Vielfalt
Die Urblüte liefert aber auch erste Hinweise, wie sich die Angiospermen zu ihrer heutigen Vielfalt entwickelt haben könnten: Die Forscher vermuten, dass die Urblüte in Bezug auf die Zahl ihrer Wirtel und Blätter nicht sehr festgelegt war. Schon in der frühen Evolution der Blütenpflanzen könnten die Blumen daher einen Teil ihrer Blütenblätter und Wirtel reduziert oder miteinander verschmolzen haben.
„Die reduzierte Zahl von Wirteln könnte sogar die Voraussetzung für die weitere Abwandlung der Blütenstruktur gewesen sein“, mutmaßen Sauquet und seine Kollegen. „Erst sie führte dann zu der großen Vielfalt der Blütenformen und Bestäubungsstrategien, die wir bei heutigen Blumen kennen.“ Sie hoffen, dass künftige Fossilfunde ihre Rekonstruktion bestätigen und es erlauben werden, die ersten Entwicklungsschritte von der Urblüte zu ihren Nachfolgern nachzuvollziehen. (Nature Communications, 2017; doi: 10.1038/ncomms16047)
(Nature/ Universität Wien, 02.08.2017 – NPO)