Rituelle Verstümmelung: Im Steinzeit-Heiligtum von Göbekli Tepe könnten Menschen schon vor 10.000 Jahren einem Schädelkult gehuldigt haben. Archäologen haben dort zahlreiche abgetrennte Menschenschädel, sowie mit Löchern und Gravuren verzierte Schädelfragmente entdeckt. Dies spricht dafür, dass die Steinzeitmenschen den Schädeln eine rituelle Bedeutung zusprachen – möglicherweise im Rahmen eines Ahnenkults, wie die Forscher im Fachmagazin „Science Advances“ berichten.
Die Steinkreise von Göbekli Tepe in Anatolien sind das älteste bekannte Monument der Menschheit. Schon vor 10.000 bis 12.000 Jahren richteten hier steinzeitliche Jäger und Sammler tonnenschwere Steine zu 20 Steinkreisen auf – eine erstaunliche Leistung. Viele dieser Pfeiler sind zudem zurechtgehauen und mit Tierreliefs und Figuren verziert.
Wozu die Steinkreise von Göbekli Tepe einst dienten, ist nicht eindeutig geklärt. Archäologen vermuten aber, dass die Steinzeitmenschen hier wahrscheinlich Rituale und Feste feierten – davon zeugen unter anderem große Mengen an Tierknochen zwischen den Pfeilern.
Abgetrennt und verziert
Jetzt jedoch haben Julia Gresky und ihre Kollegen vom Deutschen Archäologischen Institut Funde gemacht, die ein neues Licht auf die Rituale im Steinzeit-Heiligtum werfen. Es handelt sich um mehr als 400 Fragmente menschlicher Schädel, von denen 40 postmortale Bearbeitungsspuren zeigen: Flache Schnitte deuten darauf hin, dass die Köpfe der Toten nachträglich abgetrennt und von Haut und Fleisch befreit wurden.
Noch spannender aber: Bei Fragmenten von drei Schädeln entdeckten die Archäologen tiefe Schnitte entlang der Mittelachse des Kopfes, ein Schädelfragment wurde zudem durchbohrt. Die Tiefe und Form dieser Spuren spreche dagegen, dass es sich zufällige Schäden handelte. „Diese Ritzungen sind nicht mit einem Entbeinen oder Skalpieren verknüpft“, berichten Gresky und ihre Kollegen. Stattdessen deuten sie darauf hin, dass diese Schädel gezielt bearbeitet wurden.
„Diese Funde sind herausragend, denn sie liefern die allerersten osteologischen Beweise für eine nachträgliche Bearbeitung von Toten in Göbekli Tepe“, konstatieren die Forscher.
Hinweise auf Schädelkult
Nach Ansicht der Archäologen sprechen die Funde dafür, dass die Menschen von Göbekli Tepe den Schädeln eine besondere Bedeutung zusprachen. Schon vor mehr als 10.000 Jahren könnte es im Steinzeit-Heiligtum demnach spezielle Totenrituale – und vielleicht sogar einen echten Schädelkult gegeben haben. Sollte sich dies bestätigen, wäre dies einer der frühesten Belege für einen solchen Kult.
Ein weiteres Indiz für einen Schädelkult in Göbekli Tepe könnten einige der Reliefs auf den Steinpfeilern der Anlage liefern. Denn auf ihnen sind häufig Menschenfiguren mit abgetrennten Köpfen zu sehen und auch Raubtiere, die abgetrennte menschliche Köpfe halten. Besonders auffällig ist eine als „Gabenbringer“ bekannte Darstellung: Eine kniende Figur trägt in ihren Händen einen menschlichen Kopf.
Ahnenkult oder Bestrafung von Feinden?
Doch was versprachen sich die Menschen von Göbekli Tepe von ihrem Schädelkult? Welchem Zweck diente die Verzierung und Bearbeitung der Schädel? Wie die Archäologen erklären, wären zwei Erklärungen denkbar. Zum einen könnte dies Teil eines Ahnenkults gewesen sein: Die Schädel der Toten wurden als Zeichen der Verehrung verziert und ausgestellt. Bearbeitungsspuren wie Bohrlöcher könnten dann zur besseren Befestigung der Schädel angebracht worden sein.
Zum anderen könnte es sich um eine nachträgliche „Bestrafung“ von besiegten Feinden handeln. In einigen anderen jungsteinzeitlichen Fundstellen haben Archäologen beispielweise Schädel mit absichtlich verstümmeltem und zerstörtem Gesicht entdeckt, die für eine solche Praxis sprechen. Noch können die Archäologen nur darüber spekulieren, wozu der Schädelkult von Göbekli Tepe diente. Vielleicht werden zukünftige Funde hier mehr Aufschluss geben. (Science Advances, 2017; doi: 10.1126/sciadv.1700564)
(American Association for the Advancement of Science, 29.06.2017 – NPO)