Operieren – ja oder nein? Wie der Arzt bei Rückenschmerz-Patienten in Deutschland über diese Frage entscheidet, hängt offenbar stark von der Region ab. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie Faktencheck Gesundheit der Bertelsmann Stiftung. Demnach landen Betroffene in Fulda 13-mal häufiger auf dem OP-Tisch als in Frankfurt an der Oder. Grund dafür könnte das Fehlen klarer, einheitlicher Behandlungsleitlinien sein, vermuten die Autoren.
Rückenschmerzen sind ein echtes Volksleiden: Weltweit verursachen allein Schmerzen im unteren Rücken mehr Einschränkungen und Behinderungen als jede andere Krankheit, wie eine Studie im Jahr 2014 ergab. In Deutschland geht jeder fünfte gesetzlich Versicherte mindestens einmal im Jahr wegen Rückenschmerzen zum Arzt – und immer häufiger werden die Betroffenen aufgrund ihrer Beschwerden sogar ins Krankenhaus eingewiesen.
So sind die rückenschmerzbedingten Aufnahmen von 2007 bis 2015 um mehr als 70 Prozent gestiegen. Doch viele dieser Klinikaufenthalte wären vermeidbar. Zu diesem Schluss kommt die Studie Faktencheck Gesundheit der Bertelsmann Stiftung, die die Krankenhausaufenthalte und Rückenoperationen in allen 402 Kreisen und kreisfreien Städten in Deutschland untersucht hat. Als Datengrundlage dafür dienten unter anderem die Fallpauschalenbezogene Krankenhausstatistik sowie weitere Auswertungen des Statistischen Bundesamts.
Klinikaufenthalte oft überflüssig
Die Analyse der Daten ergab: Die Mehrzahl der mit der Diagnose Rückenschmerzen in die Klinik aufgenommenen Patienten erhält dort weder eine spezifische Schmerztherapie, noch einen operativen Eingriff – sondern überwiegend rein diagnostische Leistungen, beispielsweise eine Tomografie-Untersuchung. Das sei überflüssig, meinen die Autoren der Studie. Denn: „Solche Maßnahmen können zumeist auch ambulant erfolgen.“
Auffallend sind der Untersuchung zufolge dabei die großen Unterschiede zwischen den Kreisen: Während zum Beispiel in Heidelberg nur 58 oder in Kiel 91 von 100.000 Menschen mit der Diagnose Rückenschmerzen ins Krankenhaus kommen, sind es im westfälischen Hamm 815 und in Osterode am Harz sogar 919.
Gravierende regionale Unterschiede
Auch in Bezug auf die durchgeführten Operationen zeigt sich ein alles andere als homogenes Bild. So wird bei Rückenbeschwerden zwar insgesamt öfter als früher operiert. Die Häufigkeit der drei betrachteten Eingriffe – Bandscheiben-OPs, Entfernungen knöcherner Strukturen am Wirbelkanal sowie Versteifungsoperationen – schwankt von Region zu Region jedoch stark.
Besonders gravierende Differenzen stellte die Studie bei aufwendigen Versteifungsoperationen fest. Demnach finden bei Patienten im Landkreis Fulda 13-mal so viele Eingriffe statt wie in Frankfurt an der Oder. Auffällig hohe Operationszahlen je 100.000 Einwohner weisen viele Kreise in Thüringen, Hessen und im Saarland auf. Hingegen kommen Versteifungsoperationen in den meisten sächsischen Kreisen und in Bremen deutlich seltener vor. Doch auch bei Dekompressionsoperationen am Wirbelkanal wurden Unterschiede bis zum 13-fachen ausgemacht, bei Bandscheibenoperationen immerhin bis zum Sechsfachen.
Zudem zeigen die Ergebnisse in den „OP-Hochburgen“, dass sich die Situation in den letzten Jahren zugespitzt hat. So ist in Nord- und Osthessen sowie im angrenzenden Westthüringen mittlerweile ein zusammenhängendes Gebiet entstanden, in dem fast alle Stadt- und Landkreise sehr hohe Operationsraten aufweisen.
Individuelle Vorlieben statt einheitliche Leitlinien?
Warum die Versorgung in den Regionen so unterschiedlich ist, lässt sich mit den zur Verfügung stehenden Daten nur schwer erklären, wie es in der Studie heißt. Eckhardt Volbracht, Gesundheitsexperte bei der Bertelsmann Stiftung, glaubt jedoch, dass das Fehlen von klaren, einheitlichen medizinischen Leitlinien eine große Rolle dabei spielt.
Ohne einheitliche Leitlinien eröffneten sich Ärzten Behandlungsspielräume, die zu regional unterschiedlichen Versorgungsgewohnheiten führen können. „Die Entscheidung für einen operativen Eingriff darf jedoch nicht aufgrund von individuellen Vorlieben der ortsansässigen Ärzte fallen“, mahnt Volbracht. Vielmehr sollten Ärzte verständlich über Nutzen und Risiken von Behandlungen informieren und unabhängig von finanziellen Interessen gemeinsam mit dem Patienten über das weitere Vorgehen entscheiden.
Positivbeispiel Schleswig-Holstein
Bisherige Versuche, die Versorgung bedarfsgerechter zu gestalten, konnten die erheblichen Anstiege der stationären Aufnahmen und operativen Eingriffe sowie die großen regionalen Unterschiede nicht verhindern. Unterschiedliche Interessen und ungeklärte Zuständigkeiten stehen notwendigen Verbesserungen oft im Weg, so das Fazit der Studie.
Deshalb brauche es eine effektive Planung und Steuerung. Als Positivbeispiel nennen die Autoren Schleswig-Holstein. Das Land mache vor, wie sich unnötige Krankenhausaufenthalte vermeiden lassen: Die flächendeckende Einrichtung von Notfallpraxen habe bewirkt, dass deutlich weniger Patienten aufgrund der Diagnose Rückenschmerzen als Notfall stationär aufgenommen werden.
(Bertelsmann Stiftung, 19.06.2017 – DAL)