Die Aids-Epidemie begann in den USA früher als gedacht: Schon 1971 wurde das HI-Virus aus der Karibik nach New York City eingeschleppt, wie nun eine Rekonstruktion mittels Genanalysen enthüllt. Dort breitete sich Aids rasant aus und gelangte dann 1976 nach Kalifornien. Der jahrzehntelang berüchtigte „Patient Null“ jedoch ist rehabilitiert: Er infizierte sich erst, als Aids längst in Amerika angekommen war, wie Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.
Anfang der 1980er sorgte der Ausbruch einer mysteriösen Seuche unter schwulen Männern in Kalifornien und New York für weltweites Aufsehen. Es war der Beginn der HIV-Epidemie. Die Seuchenfahnder der Centers of Disease Control (CDC) befragten damals viele der frühen Patienten, um den Ursprung dieser Seuche aufzuklären und sammelten Blutproben. Doch wann und wo HIV tatsächlich in die USA gelangte, blieb bis heute unbekannt.
Einer der Gründe dafür: Aus den zu Beginn der HIV-Epidemie gesammelten Blutproben ließ sich zwar entnehmen, ob die Patienten Antikörper gegen das Virus trugen und demnach HIV-positiv waren. Das genetische Material des Virus war aber zu stark degradiert, um es zu sequenzieren – und so anhand des Genoms die Herkunft und die Ausbreitung des Erregers zu rekonstruieren.
Fahndung nach Viren-RNA
Nun jedoch ist es Michael Worobey von der University of Arizona und seinen Kollegen gelungen, diese Hürde zu überwinden. Sie haben eine Methode entwickelt, durch die sich die degradierten RNA-Schnipsel des HI-Virus in den alten Proben gezielt vermehren und analysieren lassen.
Für ihre Studie testeten sie zunächst mehr als 2000 Serumproben von Männern, denen 1978 und 1979 im Rahmen von Hepatitis-Studien in New York City und in San Francisco Blut abgenommen worden war. Dabei zeigte sich: Knapp sieben Prozent der Blutproben enthielten schon damals HIV-Antikörper. Aids war demnach schon Ende der 1970er Jahre in den USA angekommen.
Aus drei HIV-positiven Serumproben aus San Francisco und fünf aus New York isolierten und rekonstruierten die Forscher dann das Erbgut der damals kursierenden Aids-Erreger. Dieses verglichen sie mit dem Genom von HIV-Stämmen aus andere Ländern, sowie aus später entnommenen Blutproben.
Aus der Karibik nach New York
Das Ergebnis: Der Aids-Erreger muss schon im Jahr 1967 von Afrika aus die Karibik erreicht haben. Von dort wurde er dann 1971 in die USA eingeschleppt – höchstwahrscheinlich direkt nach New York City. „Die genetischen Vergleiche deuten darauf hin, dass HIV dort Ende der 1970er bereits relativ etabliert und genetisch vielfältig war“, berichten Worobey und seine Kollegen.
In der Metropole mit ihrer sexuell aktiven schwulen Subkultur breitete sich das HI-Virus dann rasend schnell weiter aus. Erst im Jahr 1976 schaffte Aids den Sprung von New York nach Kalifornien. „Unsere Daten zeigen, dass die Ausbrüche in Kalifornien, die als erstes die Alarmglocken schrillen ließen, eigentlich nur Ableger des älteren Ausbruchs in New York waren“, erklärt Worobey.
Neues Licht auf „Patient Null“
Diese Rekonstruktion der Ereignisse wirft auch ein neues Licht auf den vermeintlichen „Patient Null“ der amerikanischen Aids-Epidemie – Gaétan Dugas. Der frankokanadische Flugbegleiter lebte in New York und gehörte zu den ersten Aids-Patienten, die Anfang der 1980er Jahre von der CDC befragt wurden. Weil er schwul, sehr promiskuitiv und häufig unterwegs war, passte er perfekt ins Bild eines „Seuchenverbreiters“.
In späteren Berichten über die Ausbreitung von Aids wurde er daher meist als der Ausgangpunkt der US-Epidemie dargestellt – als der Mann, der den HIV-Erreger in die USA einschleppte und dann von der Ost- an die Westküste trug. „Gaétan Dugas ist einer der am stärksten dämonisierten Patienten in der Geschichte“, sagt Koautor Richard McKay von der University of Cambridge.
Fallkennzeichnung verwechselt
Doch wie sich jetzt zeigt, ist Dugas weder der HIV-Ursprung, noch „Patient Null“: „Wir haben keinerlei Indizien dafür gefunden, dass Patient Null die erste infizierte Person in den USA war“, konstatieren die Forscher. „Sein Virentyp stand der Wurzel der US-Stämme nicht einmal besonders nahe.“ Aids hatte demnach schon lange vor seiner Infektion in Amerika Fuß gefasst.
Und sogar die angebliche Kennzeichnung von Dugas als „Patient Null“ geht auf einem Irrtum zurück, wie die Forscher herausfanden. In den Akten der CDC wurde Dugas als Fall Nummer O57 geführt – der 57. Fall, der von außerhalb Kaliforniens, „Outside of California“ stammte. Im Laufe der Zeit wurde dies intern als „Fall O“ abgekürzt – und aus dem „O“ wurde dann irrtümlich eine „Null“ gemacht.
Gaétan Dugas ist damit völlig zu Unrecht als „Patient Null“ in die Aids-Geschichte Amerikas eingegangen. „Wir hoffen, dass dies künftig Forscher, Journalisten und die Öffentlichkeit zögern lässt, bevor sie den befrachteten Begriff ‚Patient Null‘ benutzen“, sagt McKay. Nature, 2016; doi: 10.1038/nature19827)
(Nature/ University of Arizona/ University of Cambridge, 27.10.2016 – NPO)