Weiche Beine: Fossilien des Urzeit-Wirbeltiers Acanthostega sorgen für Überraschung. Denn Knochenanalysen enthüllen, dass die vermeintlichen Landgänger vielleicht gar nicht an Land gehen konnten. Ihre Jungtiere hatten viel zu weiche, knorpelige Beinknochen, um außerhalb des Wassers umherkriechen zu können, wie Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten. Doch gerade die Jungtiere galten bisher als die ersten Landgänger.
Vor rund 400 Millionen Jahren wagten sich die ersten Wirbeltiere aufs Land – ein echter Meilenstein der Evolution. Als einer dieser frühen halbaquatischen Vierbeiner gilt Acanthostega, Lebewesen, das vor rund 365 Millionen Jahren schon eine Art Beine statt reiner Fischflossen besaß. Doch wie diese und andere frühe Landgänger lebten und in welchem ihrer Lebensstadien sie an Land krochen, war bislang ein Rätsel.
Tod im Urzeit-Tümpel
„Unser Wissen über diese Organismen hat hier eine große Lücke“, erklären Sophie Sanchez von der Universität Uppsala in Schweden und ihre Kollegen. Deshalb haben sie nun fossile Knochen von Acanthostega neu untersucht. Nahezu alle Fossilien dieser Art stammen aus nur einer Gesteinsformation im Osten Grönlands. Dort wurden mehr als 200 Acanthostega-Knochen und 14 Schädel nah beieinander gefunden.
Diese Fossilien-Ansammlung spricht dafür, dass die Urzeit-Tiere damals gemeinsam starben. Wahrscheinlich spülte eine Flut die Vierbeiner zunächst in den Ausläufer eines Inlanddeltas. „Danach ließ eine Dürreperiode das Delta schrumpfen und die Tiere blieben in einem kleiner werdenden Tümpel gefangen, bis sie schließlich dort starben“, erklären die Forscher.
Alles Jungtiere
Für ihre Studie durchleuchteten die Wissenschaftler die Beinknochen von Acanthostega in einem Röntgensynchrotron und machten so ihre innere Feinstruktur sichtbar. „Wie ein wachsender Baum bilden auch die Gliedmaßenknochen eine Art Jahresringe“, erklärt Sanchez. „Sie verraten daher viel über die Entwicklung und das Alter eines Tieres.“
Das überraschende Ergebnis: „Unsere Analysen zeigen, dass selbst die größten Exemplare dieser Fundstelle noch Jungtiere waren“, berichten die Forscher. „Ein langes Jugendstadium könnte demnach für die allerersten Vierbeiner typisch gewesen sein.“ Denn obwohl die Acanthostega bei ihrem Tod schon sechs Jahre alt und älter waren, waren sie noch nicht voll ausgewachsen, wie ihre Knochenstruktur verrät.
Die komplette Abwesenheit von ausgewachsenen Fossilien an der Fundstelle gibt einen Einblick in die Lebensweise dieser frühen Tetrapoden: Es könnte sein, dass Acanthostega-Jungtiere zumindest einen Teil der Teil der Zeit in „Jugendgangs“ zusammenlebten – in Gruppen ohne Eltern oder andere Erwachsene.
Widerspruch zur gängigen Theorie
Und noch etwas ergaben die Analysen: Die Oberarmknochen der Acanthostega-Jungtiere waren noch nicht verknöchert, sondern bestanden bei allen zumindest teilweise aus weichem Knorpel. Das aber bedeutet, dass diese Jungtiere noch nicht laufen oder kriechen konnten. „Ein knorpeliger Oberarmknochen wäre für die Bewegung an Land ungeeignet gewesen“, sagen Sanchez und ihre Kollegen.
Zumindest als Jungtier muss Acanthostega demnach noch im Wasser gelebt haben. „Das widerspricht der gängigen These“, konstatieren die Forscher. Denn nach dieser waren die Larven der ersten Tetrapoden die eigentlichen Landgänger: Sie schlüpften aus Gelegen in kurzlebigen Tümpeln und robbten dann über Land, um in dauerhaftere, tiefere Gewässer zu gelangen. Die knorpeligen Beine der Acanthostega-Jungtiere hätten dies allerdings nahezu unmöglich gemacht.
Damit werfen die neuen Erkenntnisse zu Acanthostega mindestens ebenso viele Fragen auf, wie sie beantworten. Denn wenn die Jungtiere nicht an Land gingen, taten es dann die Erwachsenen? Oder war diese Art vielleicht doch komplett aquatisch? „Unsere Studie gibt uns nur einen allerersten Einblick in die Lebensweise eines frühen Tetrapoden“, sagt Sanchez. „Wir wollen nun auch die Lebensgeschichte anderer früher Vierbeiner untersuchen. Möglicherweise stoßen wir dabei auf Erkenntnisse, die unser Lehrbuchwissen völlig verändern.“ (Nature, 2016; doi: 10.1038/nature19354)
(Uppsala Universität/ Nature, 08.09.2016 – NPO)