Biologie

Nordsee: Verlust heimischer Fauna bis 2099

Klimawandel zwingt viele typische Meeresboden-Bewohner zum Auswandern

Nordsee: Viele typische Bewohner des Meeresbodens werden wir 2099 nicht mehr an unseren Küsten finden. Hier ein Blick über den belgischen Nordseestrand bei Ebbe. © Ghezoart Georges Hendrickx / CC-by-sa 3.0

Düstere Prognose: Im Jahr 2099 werden am Boden der Nordsee deutlich weniger heimische Arten umherkrabbeln. Denn der Klimawandel nimmt rund 60 Prozent der heimischen Meeresboden-Fauna ihren Lebensraum, wie Forscher ermittelt haben. Viele für unsere Küsten typische Seesterne, Krebse und andere Tiere wandern deshalb künftig in andere Meeresgebiete ab, dafür rücken einwandernde Arten nach.

Bedächtig gleitende Seesterne, flinke Krabben und im Sediment lebende Muscheln – auf und im Boden der Deutschen Bucht tobt das Leben. Aber schon jetzt gibt es erste Anzeichen dafür, dass sich die Nordsee verändert. So hat sich durchschnittliche Wintertemperatur in den letzten 25 Jahren bereits um etwa 1,6 Grad erhöht – im letzten Jahr gab es sogar einen Wärmerekord. Gleichzeitig stellten Biologen fest, dass sich dadurch die Tierwelt und das Plankton der Deutschen Bucht bereits zu verändern beginnen.

Die Nordsee im Jahr 2099

Wie die Zukunft der Nordsee aussieht, haben Michael Weinert vom Forschungszentrum Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven und seine Kollegen nun mit Hilfe einer Modellsimulation ermittelt. Sie speisten dafür die ökologischen Ansprüche von 75 am Meeresgrund lebenden Tierarten der Nordsee und ihre Verteilung in ein Modell ein, das die Veränderungen von Temperatur und Salinität am Grund der Nordsee bis zum Ende dieses Jahrhunderts simuliert.

„Wir haben Arten ausgewählt, die entweder zur typischen Nordseefauna gehören, wie beispielsweise die Nordseekrabbe (Crangon crangon), solche die schon heute bedroht sind oder Arten, die eine bedeutende Aufgabe im Ökosystem Nordsee spielen“, erklären die Forscher. Die Simulation ging von einer künftigen Erhöhung der Wassertemperatur zwischen 0,15 und 5,4 Grad Celsius und der Salinität von durchschnittlich 1,7 Prozent aus.

Der Haarseestern Ophiothrix fragilis wird besonders weit nach Norden wandern. © Bernard Picton/ CC-by-sa 3.0

Zwei Drittel werden auswandern

Das Ergebnis: 49 der 75 untersuchten Nordsee-Arten werden bis 2099 ihren heutigen Lebensraum verlieren. „In der Deutschen Bucht und der südlichen Nordsee wird es einen massiven Verlust der heimischen Fauna und wichtiger ‚Ökosystem-Ingenieure’ geben – mit Konsequenzen für die gesamte Flora und Fauna der Nordsee“, erläutert Weinert.

Rund 65 Prozent der heutigen Meeresgrundbewohner sind dann zwar noch in der Nordsee zu finden, verlagern aber ihren Lebensraum nordwärts. So könnte der Seestern Ophiothrix fragilis künftig bis zu 100 Kilometer in den Norden wandern. Bei der im Sediment lebenden Fauna schlagen sogar 77 Prozent der untersuchten Arten aufgrund der erhöhten Temperaturen den Weg gen Norden ein.

Schrumpfende Lebensräume

Während eine solche Verschiebung der geeigneten Lebensräume für Fische und andere sehr mobile Meeresbewohner meist kein Problem darstellt, könnte dies für viele im Sediment und am Grund lebende Tiere anders aussehen. „Umweltgradienten in der zentralen Nordsee in rund 50 Metern Tiefe könnten wie eine ‚Barriere‘ wirken, die das Ausweichen nach Norden erschweren und die Lebensräume schrumpfen lassen“, erklären die Forscher.

Der an der Nordseeküste häufige Einsiedlerkrebs wird künftig nach Süden abwandern. © Hans Hillewaert / CC-BY-SA-4.0

Aber auch in den Süden breiten sich einige Arten aus, wie die Simulation ergab: Der Einsiedlerkrebs Pagurus prideaux beispielsweise wird in Zukunft wohl etwa 105 Kilometer weiter südlich zu finden sein. Es gibt aber auch Tierarten, die sogar vom Klimawandel profitieren: Rund elf Prozent der untersuchten Arten könnten bis 2099 sogar ihre Habitate vergrößern.

Ökologische Schlüsselarten betroffen

Und noch etwas ergab die Simulation: Unter den Auswanderern sind auch viele ökologische Schlüsselarten. „Sie zeigten ebenfalls nordwärts-Verschiebungen und hohe Raten des Habitatverlusts“, berichten die Forscher. Das aber kann erhebliche ökologische Folgen haben, warnen sie.

Der Verlust solcher Ökosystem-Dienstleister kann dazu führen, dass die Nordsee weitere menschliche Einflüsse nicht mehr abpuffert, die Wasserqualität sinkt und die Bestände von kommerziell gefangenen Fischen zurückgehen. Fehlt beispielsweise der Seeigel Echinocardium cordatum, wird das Sediment weniger durchwühlt, organisches Material weniger abgebaut und der Sauerstoffgehalt im Meeresboden sinkt.

Mehr invasive Arten

„Wir erwarten zudem, dass sich einwandernde Arten in den freigewordenen Lebensräumen ansiedeln“, sagt Ingrid Kröncke von Senckenberg am Meer. „Bereits heute finden wir immer häufiger eingewanderte Arten, wie beispielsweise die Pazifische Felsenauster aus Südostasien im Watt oder die mediterrane Trapezkrabbe Goneplax rhomboides in den Gewässern der Nordsee.“

Klar scheint damit, dass sich die Tierwelt der Nordsee in Zukunft deutlich verändern wird – und das nicht erst im Jahr 2099: „Gut möglich, dass die von uns modellierten Verschiebungen der Verbreitungsgebiete schon früher eintreffen, als wir bisher annehmen“, betont Weinert. (Estuarine, Coastal and Shelf Science, 2016; doi: 10.1016/j.ecss.2016.03.024)

(Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, 03.06.2016 – NPO)

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