Verlierer des Klimawandels: Wenn Knuttstrandläufer-Küken in der Arktis schlüpfen, finden sie dort oft nur noch wenig Nahrung – schuld ist eine Verschiebung der Jahreszeiten durch die Erderwärmung. Eine Langzeitstudie zeigt, welche Folgen das hat: Durch die Mangelernährung bleiben die Zugvögel ungewöhnlich klein und haben demzufolge kürzere Schnäbel. Das wiederum wird ihnen bei der Nahrungssuche in ihrem afrikanischen Winterquartier zum Verhängnis, berichten Forscher im Fachmagazin „Science“.
Der Knuttstrandläufer gehört zu den Rekordhaltern unter den Zugvögeln: 5.000 Kilometer kann der kleine Vogel bei seiner Reise von der Arktis nach Mauretanien Non-Stop zurücklegen. Jedes Jahr im Herbst fliegt Calidris canutus nach Afrika – und kehrt pünktlich zum arktischen Frühling in den hohen Norden zum Brüten zurück.
„Die Evolution hat die Ankunft des Knutts perfekt kalkuliert“, schreiben Wissenschaftler um Jan van Gils von der Universität Utrecht. Wenn der Vogel zum Nisten auf der Taimyrhalbinsel ankommt, ist die wichtigste Nahrungsquelle der Küken dort im Überfluss vorhanden: Die Tundra schwirrt dann nur so vor Insekten. Doch diese Kalkulation geht inzwischen immer öfter nicht mehr auf.
Das Schlaraffenland kommt zu früh
Das Team um van Gils hat die Zugvögel über drei Jahrzehnte lang genau beobachtet – und festgestellt, dass der Klimawandel den Knuttstrandläufern einen Strich durch die Rechnung macht. Die Wissenschaftler werteten Satellitenbilder vom Brutort der Schnepfenvögel aus, analysierten das Verhalten der Vögel an der mauretanischen Küste und unterzogen insgesamt 1.990 Jungtieren einer eingehenden körperlichen Untersuchung.
Auf diese Weise konnten sie zeigen: Der Beginn des Frühlings auf der Taimyrhalbinsel hat sich im Laufe der letzten dreißig Jahre im Schnitt um fast zwei Wochen nach vorne verschoben. Waren Schnee und Eis früher erst Mitte Juli verschwunden, zieht sich der Winter nun oft schon Ende Juni zurück. Die Knuttstrandläufer aber erreichen die Halbinsel heute noch zum selben Zeitpunkt wie vor dreißig Jahren.
Dadurch verpassen die Vögel die Insekten-„Blüte“, die für ihre Jungen so wichtig ist. Das schlechtere Nahrungsangebot wirkt sich merklich auf das Wachstum der Küken aus, wie die Forscher berichten: Sie blieben bedeutet kleiner, wenn der arktische Frühling früh kam – und konnten dieses Größendefizit auch später im Leben nicht ausgleichen.
Größenunterschied mit Folgen?
Welche Konsequenz aber hat die kleinere Körpergröße für die Vögel? „Zunächst schien es, als habe sie keinen Einfluss“, schreiben van Gils und seine Kollegen. „Wurde es auf der Taimyrhalbinsel kalt, machten sich die Jungtiere ganz normal auf den Weg in den Süden und kamen dort auch sicher an.“
Doch in Afrika zeigte sich schließlich, dass sich der Effekt der klimatischen Veränderungen in der Arktis für den Knutt sehr wohl bemerkbar macht: Er beeinträchtigt die Futtersuche. Denn während sie sich in der Arktis noch von Insekten ernährten, graben die Vögel an der mauretanischen Küste nach Muscheln und Schnecken im Sand – und dabei kommt es auf die Länge des Schnabels an.
Kürzere Schnäbel, schlechtere Nahrung
„Die kleinen Vögel haben einen kürzeren Schnabel als normalgewachsene. Dadurch können sie ihre wichtigste Nahrungsquelle, die Muschelart Loripes lucinalis, nicht mehr erreichen“, berichten die Wissenschaftler. Das Schalentier mache normalerweise bis zu 40 Prozent der Nahrung der Knutts aus, vergrabe sich jedoch tief im Sand.
Vögel mit zu kurzen Schnäbeln müssen deshalb auf andere Muschelarten ausweichen oder sich gar mit Seegras begnügen. Diese notgedrungene Ernährungsumstellung hat laut van Gils Team fatale Folgen: „Die Überlebensraten der Vögel, die sich nicht von Loripes ernähren konnten, waren signifikant geringer als von jenen, die bei der Nahrungswahl nicht eingeschränkt waren.“ Viele der in warmen arktischen Jahren geborenen Knutts überlebten deshalb ihren ersten Winter in Afrika nicht.
Klimawandel beeinflusst Überleben
Der Knuttstrandläufer könnte schon bald vom Aussterben bedroht sein, warnen die Forscher. Zudem ist er nicht die einzige Vogelart, die unter der Erderwärmung leidet. So zeigen Langzeitstudien unter anderem, dass der Klimawandel in den vergangenen Jahren bereits die europäischen Vogelbestände verändert hat. Zu den Verlierern gehören auch in unseren Breitengraden vor allem die Zugvögel.
„Klimatische Veränderungen in bestimmten Regionen könnten in Zukunft das Überleben vieler migrierender Arten beeinflussen. Unsere Ergebnisse zeigen erstmals, dass sich die Folgen solcher Veränderungen nicht nur zeitlich verzögert bemerkbar machen können – sondern darüber hinaus auch an einem ganz anderen Ort zum Tragen kommen können“, schließen die Wissenschaftler. Zumindest für den Knuttstrandläufer liegen zwischen Ursache und überlebensentscheidender Auswirkung ein paar Tausend Kilometer. (Science, 2016; doi: 10.1126/science.aad6351)
(Lomonosov Moscow State University/ Science, 13.05.2016 – DAL)