Paradoxer Effekt: Forscher könnten das Geheimnis der marsianischen Hang-Rinnen gelüftet haben. In einem Experiment haben sie herausgefunden, wie eine winzige Menge Schmelzwasser trotzdem eine verblüffend große Rinne hinterlassen kann: Weil das Wasser in der dünnen Marsluft sofort anfängt zu kochen, reißt es Sandkörner in die Höhe – und das löst Minilawinen aus, die im Laufe der Zeit die Rinnen bilden, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature Geoscience“ berichten.
Der Mars war zwar einst durchaus wasserreich, doch heute ist er längst zu kalt und seine Atmosphäre zu dünn, um flüssiges Wasser lange halten zu können: Es gefriert oder verdampft, sobald es an die Oberfläche tritt. Das allerdings bedeutet nicht, dass es auf dem Roten Planeten gar kein flüssiges Wasser mehr gibt: Der Nachweis von chlorhaltigen Salzen im Untergrund und an den sich verändernden Rinnen einiger Kraterhänge sprechen dafür, dass sich zumindest sehr kurzzeitig Wasser oder Sole bilden könnten.
Rätsel um die Rinnen
Gerade diese Rinnen jedoch geben Forschern Rätsel auf: Sie sind immerhin so groß, dass sie aus dem Orbit zu erkennen sind und müssen daher von einer relativ großen Wassermenge geformt worden sein. Darauf jedenfalls deuten Vergleiche mit ähnlichen Landschaftsformen auf der Erde hin. Doch auf dem Mars gibt es bisher keinen Prozess, der ausreichend viel Wasser erzeugen könnte.
„Die wahrscheinlichste Quelle für flüssige Sole oder Wasser auf den heutigen Mars ist das Schmelzen von saisonalem Frost oder von Eis im Untergrund“, erklären Marion Massé von der Université de Nantes und ihre Kollegen. Doch dieser Prozess setzt nur sehr kleine Mengen Wasser frei – und diese verdampfen in der dünnen Atmosphäre fast sofort wieder. Wie dadurch die großen Rinnen entstehen sollen, ist daher bisher rätselhaft.
Bei Raumtemperatur verkocht
Um diese Frage zu klären, haben Massé und ihre Kollegen nun die marsianische Rinnenbildung im Labor nachgebaut. Für ihr Experiment häuften sie mehrere Sandhaufen mit rund 30 Grad Hangneigung in einer Klimakammer auf. An die Oberkante der Hänge legen sie einen 70 Gramm schweren Eiswürfel aus reinem Wasser oder Sole. Dann versetzten einen Teil der Versuchshänge in marsianische Sommerbedingungen: knapp 20 Grad Celsius und ein Atmosphärendruck zwischen 6,5 und 9 Millibar.
Das Ergebnis: Als die Eiswürfel schmolzen, bildete sich Schmelzwasser und rann die Sandhügel hinab. Wie erwartet blieb dieses Wasser unter dem niedrigen Druck der Marsatmosphäre nicht lange flüssig: „Es verdampft, weil es beginnt zu kochen“, erklären die Forscher. „Dadurch bilden sich sehr viel kürzere Fließspuren als unter terrestrischen Bedingungen.“ Das reine Fließen des Wassers oder Sole aus dem Eiswürfel reichte daher nicht aus, um die auf dem Mars beobachteten Rinnenformen nachzubilden.
Körnerlawine am Marshang
Doch das sprudelnde Verdampfen des Wassers hat einen entscheidenden Nebeneffekt, wie die Experimente enthüllten: Der Dampf reißt Sandkörnchen in die Höhe und katapultiert sie mit rund 0,35 Meter pro Sekunde durch die Luft. Wie die Forscher ausrechneten, reicht die Kraft des kochenden Schmelzwassers auf dem Mars aus, um noch vier Millimeter große Körner anzuheben.
Und das hat Folgen: Die hochgerissenen Sandkörnchen fallen am Vorderende der Fließfront wieder herab und türmen sich dort auf, wie die Forscher beobachteten. Das setzt sich solange fort, bis diese Haufen zu hoch werden. „Dann kollabiert dieser Grat und das löst eine trockene Körnerlawine aus, die einen bogenförmigen Trog mit erhabenen Rändern erzeugt“, so Massé und ihre Kollegen.
Erst die Kombination macht’s
Genau diese Kombination – kochendes Wasser und trockene Körnerlawine – könnte nach Ansicht der Forscher das Rätsel der marsianischen Rinnen lösen. Denn wenn sich diese Abfolge von verdampfendem Schmelzwasser und Minilawinen oft genug wiederholt, entsteht selbst mit sehr wenig Wasser eine relativ große Rinne, wie die Forscher erklären.
Paradoxerweise könnte es demnach gerade die Instabilität von flüssigem Wasser auf der Marsoberfläche sein, die ihm genügend Kraft verleiht, um sichtbarer Spuren an den Kraterhängen zu hinterlassen. „Wie unser Experiment zeigt, kann schon eine kleine Menge Wassers an der Marsoberfläche wegen seines metastabilen Zustands eine überproportional große geomorphologische Wirkung haben“, sagen die Wissenschaftler.
Überraschend auch: Entgegen den Erwartungen war dieser formende Effekt bei reinem Wasser deutlich stärker als bei der Sole – obwohl diese bisher als Hauptakteur bei diesen Prozessen galt. „Das spricht dafür, dass die bisherigen Annahmen neu überdacht werden müssen“, so Massé und ihre Kollegen. (Nature Geoscience, 2016; doi: 10.1038/ngeo2706)
(Nature, 03.05.2016 – NPO)