Psychologie

Warum Befehle unsere Moral untergraben

Experiment belegt tiefgreifende innere Distanzierung beim Handeln nach Anweisung

Befehle befolgen Menschen manchmal sogar gegen ihre Überzeugungen - aber warum? © Cyano66/ iStock.com

Elektroschocks auf Befehl: Warum handeln Menschen sogar gegen ihre moralischen Überzeugungen, wenn sie den Befehl dazu erhalten? Und wie tief geht das Gefühl, „nur Anweisungen zu befolgen“ und deshalb nicht verantwortlich zu sein? Ein Experiment zeigt nun: Die innere Distanzierung von unseren Handlungen geht in solchen Situationen bis in tiefe neuronale Vorgänge hinein.

Vor mehr als 50 Jahren führte der US-Psychologe Stanley Milgram ein Experiment durch, das in die Geschichte einging: Er untersuchte, wie bereitwillig Menschen bereit waren, einem Mitmenschen schwere Elektroschocks zu versetzen – und welche Rolle die Anweisung einer vermeintlichen Autoritätsperson dafür spielte. Dies geschah unter anderem vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse, in denen sich scharenweise KZ-Aufseher und NS-Führer damit rausredeten, sie hätten nur Befehle befolgt.

Milgrams Ergebnis: Zwei Drittel Versuchsteilnehmer waren bereit, auf Befehl ihrem Mitmenschen vermeintlich lebensbedrohliche Stromschläge zu verabreichen, obwohl sie dessen – fingierten – Schmerzensschreie hörten. „Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen“, schrieb Milgram dazu. „Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis.“

Wird das Gefühl der Kontrolle manipuliert?

Aus diesem Experiment ergibt sich die seither vieldiskutierte Frage, warum Befehle selbst unsere tiefverwurzelten Moralvorstellungen außer Kraft zu setzen scheinen. Dass sozialer Druck dabei eine Rolle spielt, haben Experimente seither belegt. Aber steckt vielleicht noch mehr dahinter? Patrick Haggard vom University College London und seine Kollegen vermuteten einen tiefgreifenderen psychologischen Effekt.

„Menschen weigern sich oft, Verantwortung zu übernehmen, weil sie ja nur Befehle befolgt hätten“, sagt Haggard. „Aber sagen sie das nur, um der Strafe zu entgehen oder verändern Befehle tatsächlich unsere grundlegende Wahrnehmung der Verantwortlichkeit?“ Sein Verdacht: Möglicherweise manipuliert ein Befehl unseren Sinn für Handlungsmächtigkeit – das Gefühl, selbst die Kontrolle über die Situation und Handlungen zu besitzen.

Die Befehls-Variante des Versuchs: Die Experimentatorin gab Anweisungen, denen die Probadin folgte. © Haagard et al., Current Biology / CC-by-nc-nd

Stromschläge gegen Geld

Um das zu überprüfen, führten die Forscher ein an Milgram angelehntes Experiment durch: Zwei Versuchsteilnehmerinnen saßen sich gegenüber und erhielten abwechselnd die Gelegenheit, dem Gegenüber einen leichten Stromschlag zu versetzen und dafür eine Geldbelohnung zu kassieren. In einer Gruppe fällten die Probandinnen diese Entscheidung selbst, in der anderen gab ihnen ein „Experimentleiter“ die Anweisung, den Schock auszuteilen oder nicht.

Sobald die Entscheidung durch Klick auf eine von zwei Tasten gefällt wurde, ertönte ein Ton. Die Teilnehmer sollten dabei angeben, wie lange die Verzögerung zwischen Tastendruck und Ton ihrem Gefühl nach gedauert hatte. Der Hintergrund: Studien zeigen, dass wir das Zeitintervall zwischen einer aktiven, von uns kontrollierten Handlung und ihrem Ergebnis verkürzt wahrnehmen. Sind wir dagegen passive, nicht verantwortliche Beobachter, erscheint uns diese Zeit länger.

Verräterische Verzögerung

Das Ergebnis im Experiment: Die Versuchspersonen, die selbst entschieden, ob sie ihrem Gegenüber einen Stromschlag gaben, schätzten das Intervall zwischen Klick und Ton auf 370 Millisekunden. Diejenigen, die auf Anweisung handelten, glaubten es seien 435 Millisekunden. Dieser Unterschied scheint zwar klein, war aber statistisch hochsignifikant, wie die Forscher berichten. Ähnliches ergab auch ein zweiter Test, indem die Probandinnen ihrem Gegenüber nur finanziellen Schaden zufügen konnten.

„Dieses Ergebnis spricht dafür, dass Aktionen unter Befehl ähnlich erfahren werden, als wenn sie passiv wären“, schlussfolgern die Forscher. Die Anweisungen der vermeintlichen Autoritätsperson führten bei den Teilnehmerinnen zu einem Verlust der Handlungsmächtigkeit. „Nötigende Anweisungen scheinen das Gehirn in einen passiven Modus zu versetzen.“

Unterschiede in einem der abgeleiteten Hirnströme: Die Intensität des Signals ist bei der Befehls-Variante geringer als bei der freien Entscheidung. © Haagard et al., Current Biology / CC-by-nc-nd

Veränderte neuronale Verarbeitung

Doch der Effekt von Befehlen geht sogar noch weiter, wie ein weiterer Testdurchgang belegte. In diesem leiteten die Forscher die Hirnströme der Teilnehmerinnen beider Gruppen ab. Sie werteten aus, ob sich bestimmte elektrische Signale, die sogenannten ereignisbedingten Potenziale (ERP), zwischen den „Befehlsempfängerinnen“ und den frei entscheidenden Versuchspersonen unterschieden.

Wie sich zeigte, war dies tatsächlich der Fall: Bei den Teilnehmerinnen, die Anweisungen folgten, feil dieses Hirnsignal deutlich schwächer aus. „Das zeigt, dass die Nötigung die Verarbeitung der Handlungsfolgen im Gehirn dämpft“, erklären Haggard und seine Kollegen. Anders ausgedrückt: Befehle führen dazu, dass wir uns auch neuronal von den Konsequenzen unserer Handlung distanzieren. Sie werden im Gehirn ähnlich verarbeitet als wenn wir nur passiv beteiligt wären.

Keine faule Ausrede

„Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass ’nur Befehle befolgen‘ mehr als nur eine faule Ausrede im Nachhinein ist“, betonen die Forscher. „Stattdessen gibt es einen komplexen Zusammenhang zwischen den Hirnmechanismen, die die Freiwilligkeit unserer Handlungen bewerten, und dem sozialen Konstrukt der Verantwortung.“

Denn wie die Test belegen, gibt es einen echten Unterschied im subjektiven Erleben der Handlungsmächtigkeit im Moment der Aktion. Wir fühlen uns unbewusst weniger beteiligt und damit auch weniger verantwortlich für das, was wir tun. „Diese reduzierte Handlungsmächtigkeit legitimiert jedoch nicht die ‚Nürnberger‘-Verteidigung „, betonen Haggard und seine Kollegen. „Unsere Gesellschaft sollte dennoch von jedem erwarten, dass er dem Bösen widersteht.“ (Current Biology, 2016; doi: 10.1016/j.cub.2015.12.067)

(Cell Press, 19.02.2016 – NPO)

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