Biologie

Eisalge Melosira ist Alge des Jahres 2016

Arktische Kieselalge ist ein entscheidender Nahrungslieferant im Nordpolarmeer

Die Eisalge Melosira arctica bildet Matten und zarte Schleier an der Unterseite des Meereises. © Alfred-Wegener-Institut/ Julian Gutt

Unscheinbarer Winzling mit enormer Bedeutung: Die arktische Kieselalge Melosira arctica ist zur Alge des Jahres 2016 gekürt worden. Die oft in Matten unter und am Meereis wachsende Mini-Alge ist einer der wichtigsten Lieferanten für Biomasse im Nordpolarmeer – und ein Plankton mit noch vielen Geheimnissen. In einem neuen Projekt wollen Polarforscher deshalb unter anderem klären, wie Melosira den lichtlosen Polarwinter übersteht und ob sie sich an den Klimawandel anpassen kann.

Sie ist nur 30 Mikrometer klein, aber ihre Wirkung ist gewaltig. Denn: „Die Eis- und Kieselalge Melosira arctica ist die mit Abstand produktivste Alge im arktischen Ozean, wie wir aus unseren neuesten genetischen Studien wissen“, erklärt Klaus Valentin vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Im Jahr 2013 war diese Eisalge allein für fast die Hälfte der arktischen Primärproduktion verantwortlich.

Die Kieselsäureschalen tragende Mini-Alge ist von einem gallertartigen Schutzmantel aus Polysacchariden umgeben. Durch sie kann der Einzeller bis zu mehrere Meter lange Ketten und Algenmatten bilden, die Vorhängen gleich von der Unterseite des Meereises herabhängen. Auch in Salzlaken und in Schmelzwassertümpeln haben Polarforscher diese Kieselalge gefunden, wo sie teils in großen Mengen wächst. Diese Algenmatten waren sogar schon dem Polarforscher Fridtjof Nansen bei seiner Arktis-Expedition im 19. Jahrhundert aufgefallen.

Über eine Gallertschichte verklebt, bilden die einzelligen Algen Fäden und Matten. © Alfred-Wegener-Institut

Melosira wirkt bis in der Tiefsee

Doch die enorme Produktivität von Melosira beschränkt sich nicht auf die oberen Wasserschichten. Wenn viel Meereis schmilzt, sinken die Algenteppiche mehrere tausend Meter tief zum Meeresboden, wo sie von Seegurken und Haarsternen gefressen werden. Bakterien zersetzen im Anschluss die Melosira-Reste, wie Forscher auf einer Polarstern-Expedition im Sommer 2012 beobachteten.

Im Zuge dieser Zersetzung entziehen die abbauenden Organismen ihrer Umgebung den lebenswichtigen Sauerstoff, sodass die Kieselalge Melosira arctica letztendlich auch das Leben in der Tiefsee beeinflusst. Mit auf diese Reise in die Tiefe nehmen sie dabei bis zu 85 Prozent des in der Arktis vorkommenden, gebundenen Kohlenstoffes, den Melosira zuvor in Biomasse umgesetzt hat. Auf diese Weise wird auch der arktische Kohlenstoffkreislauf von Melosira geprägt.

Wichtiger Akteur mit vielen Geheimnissen

Doch obwohl Melosira ein Schlüsselorganismus des arktischen Ökosystems ist, sind viele Aspekte ihrer Biologie bis heute unbekannt. So weiß man bisher nicht, wie Melosira arctica die lange Polarnacht und den harschen Frost des Winters übersteht, um sich dann im Frühjahr so stark zu vermehren, dass sie den arktischen Ozean dominiert.

„Wir wissen auch nicht, wie sie sich entwickelt und durch welche Umweltfaktoren wie Licht, Nährstoffe oder Salzgehalt ihre Lebensweise gesteuert wird“, sagt Valentin. Aus diesem Grund steht die Alge nun im Fokus eines neuen Forschungsprojektes am AWI. Die Wissenschaftler interessiert zum Beispiel, ob und wie die Kieselalge auf den Klimawandel und das schwindende Meereis reagieren wird.

Wie die Eisalge mit dem schmelzenden Meereis klarkommen wird, ist noch offen. © Alfred-Wegener-Institut

„Was geschieht dann mit Melosira, die wir vor allem am und im mehrjährigen Eis finden?“ fragt Valentin. „Wenn sich das Meerwasser erwärmt und die Lichteinstrahlung zunimmt, wachsen die meisten Algen besser. Das aber kann für Melosira ganz anders sein.“ Möglicherweise, so spekulieren die Forscher, helfen die von der Alge produzierten Gasbläschen ihr, trotz fehlendem Meereis an der Wasseroberfläche zu bleiben. Die Bläschen bleiben in der Gallertschicht hängen und erzeugen so Auftrieb.

Langzeit-Experiment im Labor

Die Forschenden wollen herausfinden, bei welchen Temperaturen die Alge optimal gedeiht und Photosynthese betreiben kann. Ferner fragen sie sich, wie die Alge mit dem Nährstoffspektrum umgehen wird, das sich mit den Temperaturen verändern wird. Fehlen ihr dann wichtige Nährstoffe wie etwa Nitrat? Welche Lichtverhältnisse verträgt die Alge am besten, da zu viel Lichteinstrahlung bei schwindenden Eisflächen auch wachstumshemmend wirken kann?

All dies lässt sich im Labor einfacher simulieren und genauer messen als im Freiland. Deshalb planen die Wissenschaftler unter anderem ein Langzeitexperiment im Labor. Sie wollen verschiedene Melosira-Stämme etwa 150 Generationen lang unter verschiedenen Bedingungen kultivieren, um herauszufinden, ob es etwa einzelne Stämme oder Unterarten gibt, die langfristig mit Temperaturen bis zu acht Grad zurechtkommen können.

Welche genetischen Varianten gibt es?

Und schließlich möchten die Wissenschaftler auch das Genom der verfügbaren Melosira-Proben analysieren. Auf diese Weise können sie herausfinden, ob in der Nordsee andere Melosira-Unterarten vorkommen als im Norden Kanadas. Regine Jahn vom Botanischen Garten und Botanischen Museum der Freien Universität Berlin hatte schon vor zehn Jahren gemeinsam mit einer kanadischen Kollegin innerartliche Sippen identifiziert.

Der Vergleich der Originalproben aus der Melville Bay Grönlands mit weiteren Kieselalgen-Populationen vor den Küsten Alaskas und Kanadas zeigte deutliche Unterschiede in den Feinstrukturen ihrer Kieselschalen. Gäbe es tatsächlich mehrere genetische Varianten im Polarmeer, wäre die Chance größer, dass eine Unterart darunter ist, die sich an den Klimawandel anpassen kann.

(Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, 07.01.2016 – NPO)

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