Gleich viele Süßigkeiten für alle? Alle Kinder pochen vor allem dann auf Gerechtigkeit, wenn sie selbst benachteiligt werden. Nur in wenigen Kulturen lehnen sie dagegen ungerechte Verteilungen ab, die ihnen selbst einen Vorteil bringen, wie Psychologen herausgefunden haben. Ein Sinn für Gerechtigkeit existiert demnach in allen Kulturen – er entwickelt sich aber in unterschiedlichem Alter und auf unterschiedliche Weise, beschreiben die Forscher im Journal „Nature“.
Niemand lässt sich gern ungerecht behandeln: In Kulturen auf der ganzen Welt existiert ein Sinn für gerechtes Teilen. Kleinkinder bemerken bereits mit 15 Monaten, wenn Belohnungen ungleich verteilt werden. Studien haben schon bei Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren gezeigt, dass sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn haben und sich auch für die Opfer von Ungerechtigkeiten einsetzen.
Kulturübergreifender Gerechtigkeitssinn?
Die bisherigen Studien haben sich allerdings vor allem auf westliche Kulturen konzentriert und andere Kulturkreise außer Acht gelassen. Daher war bislang unbekannt, ob sich der weltweit vorhandene Sinn für gerechtes Teilen bei Kindern aller Kulturen auf dieselbe Art und in vergleichbarem Alter entwickelt. Der Psychologe Peter Blake von der Boston University und seine Kollegen haben das nun geändert.
Die Wissenschaftler hatten zunächst an Kindern aus dem Großraum Boston untersucht, wie sehr Kinder in unterschiedlichem Alter auf Ungerechtigkeit achten und danach handeln. Jeweils zwei Kinder saßen sich dabei an einem einfachen Apparat gegenüber. Eines der Kinder konnte mit Hilfe von zwei Hebeln entscheiden, ob sich zwei Plattformen mit Süßigkeiten so neigen, dass jedes Kind den Inhalt einer Plattform erhält, oder ob die Belohnungen für beide unerreichbar in eine Schüssel fallen.
„Das ist nicht fair“ – für mich oder für Dich?
Dabei zeigten sich die ersten Unterschiede je nach Alter der Kinder: Jüngere Kinder wiesen schnell Verteilungen zurück, bei denen das andere Kind mehr erhielt als sie selbst. Ab einem Alter von etwa acht Jahren verwarfen die Kinder aber auch dann die Süßigkeiten, wenn das andere Kind deutlich weniger als sie erhalten sollte. „Es war ein ziemlich überraschendes Resultat, dass Kinder ein solches Opfer eingehen“, meint Blake. „Als wir sie nach dem Grund fragten, sagten sie, es sei nicht fair.“
Daraufhin fragten sich die Forscher, ob diese Abneigung gegen allgemein unfaire Behandlung auch bei gleichaltrigen Kindern in anderen Kulturen auftritt. Sie wiederholten das Experiment mit insgesamt über 1.600 Kindern aus Kanada, Indien, Mexico, Peru, Senegal, Uganda und den USA. Die Experimente mit den Kindern zwischen vier und fünfzehn Jahren zeigten schnell: Selbst weniger Süßigkeiten zu bekommen, lehnen Kinder aller Kulturen gleichermaßen ab. Es zeigten sich lediglich geringe Altersunterschiede, ab wann die Kinder daraus die Konsequenz zogen.
Sobald das andere Kind weniger Süßigkeiten erhalten sollte, zeigten sich jedoch überraschenderweise nur Kinder aus Kanada und den USA sowie aus Uganda solidarisch und verzichteten aus Fairnessgründen auf den eigenen Vorteil. Die Forscher nehmen daher an, dass der Sinn für diese Form der Ungerechtigkeit eher kulturell geprägt ist, als der universell vorhandene Widerstand gegen den eigenen Nachteil.
Unterschiedliche kulturelle Ursprünge
Die Forscher betonen jedoch, dass ihre Ergebnisse nicht zwangsläufig bedeuten, bestimmte Kulturen seien egoistischer als andere. „Wir behaupten nicht, dass die Abneigung gegen den eigenen Vorteil durch Ungleichheit in diesen Kulturen nicht existiert“, sagt Studienleiter Felix Warneken von der Harvard University in Massachusetts. „Es kann sein, dass Kinder in den USA und Kanada schon früh darauf gebracht werden, und dass es in anderen Kulturen erst später auftritt.“ Die teilnehmenden Kinder aus Uganda waren außerdem an ihrer Schule auch von westlichen Lehrern unterrichtet worden, was sie entsprechend kulturell mitgeprägt haben könnte.
„Ein wichtiger Hinweis ist, dass wir nur eine begrenzte Zahl Kulturen überprüft haben“, fügt Erstautor Blake hinzu. „Wir haben zum Beispiel keine Jäger-und-Sammler-Kulturen untersucht. So ist es gut möglich, dass wir dieses Phänomen auch in solchen Kulturen antreffen.“ Die bisherigen Ergebnisse seien jedoch ein wichtiger erster Schritt, die kulturellen Ursprünge des Gerechtigkeitssinnes besser zu begreifen. Die gefundenen Unterschiede und Prozesse sollen auch die Auswahl untersuchter Kulturen in zukünftigen Studien erleichtern. (Nature, 2015; doi: 10.1038/nature15703)
(Harvard University / Boston College, 23.11.2015 – AKR)