Archäologie

Verschollene Zeilen des Gilgamesch-Epos entdeckt

Fund schließt Lücke in berühmtester Dichtung des alten Babylon

Die drei zusammengesetzen Fragmente der neu entdeckten Tontafel aus dem Gilgamesch-Epos © Osama Shukir Muhammed Amin FRCP / CC-by-sa 4.0

Von Raubgräbern aufgedeckt: Keilschriftzeilen auf einer babylonischen Tontafel haben sich als bisher fehlender Teil des berühmten Gilgamesch-Epos entpuppt. Die drei Fragmente der Tafel waren einem irakischen Museum von Raubgräbern verkauft worden. Nähere Untersuchungen enthüllten, dass die 20 Zeilen eine bisherige Lücke im fünften Kapitel der fast 4.000 Jahre alten Erzählung schließen.

Das Gilgamesch-Epos gilt als eine der ältesten Dichtungen überhaupt und eine der bekanntesten Sagenerzählungen Babyloniens. Das vor 3.500 bis 4.000 Jahren in vielen Teilen geschriebene Werk berichtet von den Abenteuern von Gilgamesch, dem König der sumerischen Stadt Uruk, und seinem Helfer Enkidu. Auch einen Sintflutbericht enthalten Teile dieses Werks. Ein Großteil der bisher bekannten Fassung dieses Epos geht auf Fragmente von Tontafeln zurück, die 1853 bei Ausgrabungen in Ninive entdeckt wurden.

Drei Fragmente aus dem fünften Kapitel

Bei einigen Passagen gab es jedoch Abweichungen zwischen verschiedenen Fundstücken und Fassungen. Zudem blieben wegen fehlender Teile einige Lücken im Text offen. Eine dieser Lücken schließen jetzt drei vom irakischen Sulaymaniya Museum akquirierte Fragmente einer Tontafel aus der neobabylonischen Zeit. Auf ihnen finden sich 20 Zeilen des Gilgamesch-Epos, die eine bisherige Lücke im fünften Kapitel des Werks schließen.

Abdruck eines Siegels aus der sumerischen Stadt Uruk. Es stellt einen Priesterkönig und seinen Helfer dar - wie Gilgamesch und Enkidu. © gemeinfrei

Entdeckt und ausgegraben wurden die Tontafeln wahrscheinlich von Schmugglern, die die historischen Stätten im Süden des Iraks ausplünderten, um Fundstücke zu verkaufen. Um das Verschwinden solcher illegal erworbenen Funde ins Ausland zu verhindern, hat das Sulaymaniya Museum in den letzten Jahren versucht, so viel Schmuggelgut wie möglich aufzukaufen, indem es den Verkäufern Straffreiheit verspricht.

Entdeckt im Schmuggelgut

2011 trat ein illegaler Verkäufer an das Museum heran, der 80 bis 90 schlammverkrustete Fragmente von Tontafeln zu verkaufen hatte. Als der Archäologe und Historiker Farouk Al-Rawi von der University of London die Tafeln sah, bat er den Museumsleiter, unbedingt jeden Preis zu zahlen, den der Schmuggler haben wollte. Denn neben einigen Fälschungen fiel ihm eine Tontafel auf, die aufgrund ihrer Keilschrift und Alters etwas Besonderes zu sein schien.

Und tatsächlich: Die 20 Zeilen Keilschrift entpuppten sich als ein bisher fehlender Teil aus dem fünften Kapitel des Gilgamesch-Epos. Die Zeilen wurden wahrscheinlich um 600 vor Christus von einem neubabylonischen Schreiber auf diese Tafel kopiert.

Büste des Gilgamesch © Gwil5083/ CC-by-sa 4.0

Enkidu mit Gewissensbissen

Im fünften Kapitel wird beschrieben, wie Gilgamesch und Enkidu Humbaba, den Hüter des Zedernwalds töten und einige Zedern zu fällen – obwohl sie wissen, dass sie damit ein Unrecht tun. Die neu entdeckten Zeilen beschreiben nun den Zedernwald und die darin lebenden Affen näher, zeichnen aber auch das vermeintliche Ungeheuer Humbaba in völlig neuem Licht. Denn statt eines Monsters wird er hier als fremder Herrscher eines exotischen Hofstaats beschrieben.

Deutlich wird darin auch, dass Gilgamesch und Enkidu nach ihrer Tat durchaus ein schlechtes Gewissen haben. „Enkidu sagt reuevoll: ‚Wir haben den Wald zu einem Ödland gemacht'“, berichtet Al-Rawi. „Diese neu entdeckte Rede Enkidus stützt den Eindruck, dass nach Meinung der Dichter die Zerstörung von Humbaba und seiner Bäume moralisch falsch war.“ Das allerdings hält die beiden nicht davon ab, prompt die Zeugen der Untat, die sieben Söhne des Humbaba, auch noch zu beseitigen.

Nach Ansicht von Al-Hawi geben die neu entdeckten Zeilen den Charakteren des Gilgamesch-Epos neue Tiefe und zeigen, dass der Dichter eine guter Beobachter der menschlichen Psyche war. „Das bestätigt den Ruf dieses Werkes, einen tiefen Einblick in das menschliche Wesen zu geben“, so der Forscher.

(American Schools of Oriental Research / Smithsonian, 13.10.2015 – NPO)

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