Neurobiologie

Schreien funktioniert

Besonders raue Modulationen bewirken Alarmwirkung von Schreien

Schreie wirken alarmierend und sind kaum zu ignorieren - aber was macht sie akustisch so einzigartig? © FreeImages.com / ralaenin

Wer schreit, fällt auf: Den lauten Ruf eines Menschen hört man selbst bei großem Lärm noch heraus. Warum das so ist, haben Forscher nun herausgefunden. Demnach unterscheiden sich Schreie durch besondere akustische Eigenschaften von anderen Geräuschen. Ihre einzigartige „Rauigkeit“ stellt ihre alarmierende Wirkung in Stress- und Gefahrensituationen sicher. Im Fachmagazin „Current Biology“ beschreiben die Forscher außerdem, wie Schreie auf die Angst-Zentrale im Gehirn wirken.

Wir alle haben schon mal Schreie gehört und selbst geschrien: „Jeder hat eine ungefähre Vorstellung davon, was Schreie ausmacht“, sagt David Poeppel vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt. Jedoch zu beschreiben, was genau einen lauten Ausruf erst zum unverkennbaren Schrei macht, ist schon schwieriger. Sie sind vor allem laut, hoch und schrill. „Aber das allein reicht nicht aus“, so Poeppel. „Sie können wie andere Laute hoch und laut sein, aber zudem haben sie eine einzigartige Modulation, die andere Laute nicht aufweisen.“

Jeder schreit

Schreien ist jedoch ein wichtiges Mittel zur Kommunikation: „Es gehört zu den frühesten Lauten, die jeder produziert – durch alle Kulturen und Altersgruppen“, erklärt Poeppel. Das Schreien eines Säuglings ist praktisch unmöglich zu ignorieren. Darüber hinaus schreien auch viele Tierarten. Was uns Menschen auszeichnet, ist jedoch die Fähigkeit, Schreie von verständlichen Sprachmustern zu unterscheiden. Poeppel und seine Kollegen wollten darum herausfinden, was genau die Schreie so einzigartig macht und warum wir so spezifisch darauf reagieren.

Dazu legten die Neurowissenschaftler zunächst eine Datenbank unterschiedlichster Geräusche an. Diese enthielt menschliche Laute wie gesprochene Sätze und Schreie, aber auch künstliche Geräusche wie das Klingeln eines Weckers. Außerdem fügten sie einfache Klang-Intervalle zu der Sammlung hinzu, darunter „reine“ und „unsaubere“, also dissonante Tonkombinationen. Darüber hinaus sammelten die Forscher Schreie aus Filmen und YouTube-Videos und ließen auch einige Freiwillige verschiedene Schreie und Sätze aufnehmen.

Rauigkeit macht Schreie unangenehm

Ein Vergleich der akustischen Eigenschaften all dieser Geräusche zeigte: Die Schreie zeichnen sich besonders durch eine Eigenschaft aus, die als „Rauigkeit“ bezeichnet wird. Rauigkeit entsteht, wenn sich die Lautstärke oder die Frequenz eines Geräusches stark und schnell verändert. „Wenn diese Änderungen sehr schnell erfolgen, ist das Gehör nicht mehr in der Lage, diese zeitlichen Veränderungen ‚aufzulösen'“, erklärt Poeppel. „Man empfindet ein solches Geräusch dann als rau und damit als unangenehm.“

Modulationen in einem bestimmten Frequenzbereich sorgen für die besonders durchdringende "Rauigkeit" der Schreie. © Luc Arnal

Bei normaler menschlicher Sprache liegt diese Modulationsfrequenz bei vier bis fünf Hertz, sie ist damit nicht besonders rau. Schreie und dissonante Intervalle, wie etwa eine unsaubere Quinte, fallen dagegen in den Bereich von 30 bis 150 Hertz: Sie verändern sich zeitlich also wesentlich schneller und sind damit rau und durchdringend.

Wecker sind Schreien nachempfunden

Interessanterweise weisen auch Alarmsignale wie das Klingeln eines Weckers oder eine Alarmanlage am Auto eine solche Rauigkeit auf. Die Hersteller solcher Geräte haben offenbar durch Versuch und Weiterentwicklung die Modulation menschlicher Schreie nachempfunden – der Alarm ist damit durchdringender und wirkungsvoller.

Wie effektiv diese rauen Geräusche tatsächlich auf Menschen wirken, untersuchten die Wissenschaftler in einem Folgeexperiment. Versuchspersonen hörten sich die Aufnahmen aus der Datenbank an und sollten bewerten, wie furchterregend oder „alarmierend“ diese klingen. Dabei bestätigte sich: Schreie und geschriene Sätze wirken umso beängstigender, je höher sie auf der „Rauigkeitsskala“ liegen.

Angst-Region spricht auf Schreie an

Abschließend suchten die Forscher nach dem Bereich im Gehirn, der solche Geräusche verarbeitet. Mittels funktioneller Magnetresonanztomographie zeichneten sie die Gehirnaktivität der Probanden auf, während diese die Schreie hörten. Sowohl Schreie als auch Alarmgeräusche lösten eine erhöhte Aktivität in der Amygdala aus – diese Hirnregion ist unter anderem für die Verarbeitung und Erinnerung von Angst zuständig.

„Schreien funktioniert wirklich“, sagt Poeppel. „Unsere Ergebnisse zeigen im Ganzen, dass Schreie eine bevorzugte akustische Nische belegen. Das stellt ihre biologische und letztendlich ihre soziale Wirkung sicher – wir schreien nur, wenn wir müssen.“ Die Forscher wollen sich auch weiterhin auf menschliche Schreie konzentrieren und besonders das durchdringende Geschrei von Säuglingen und Kleinkindern erforschen. Außerdem wollen sie untersuchen, inwiefern menschliche und tierische Schreie sich unterscheiden, und wie dieses Merkmal zwischen verschiedenen Arten erhalten bleibt. (Current Biology, 2015; doi: 10.1016/j.cub.2015.06.043)

(Max-Planck-Gesellschaft / New York University / Cell Press, 17.07.2015 – AKR)

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