Gelinderte Symptome: Zum ersten Mal ist es gelungen, die typischen Symptome des Autismus mit einem Medikament zu lindern. Ein aus Brokkoli und anderen Kohlsorten hergestellter Wirkstoff normalisierte das Verhalten autistischer Jungen bereits nach wenigen Wochen spürbar. Das sei ein wichtiger erster Schritt hin zu einer wirksamen Therapie gegen die Entwicklungsstörung, so die Forscher im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“.
Etwa ein bis zwei Prozent der Kinder leiden an einer autistischen Entwicklungsstörung – Jungen häufiger als Mädchen. Sie zeigen ein gestörtes Sozialverhalten, neigen zu stereotypen, wiederholten Verhaltensmustern und sind oft auch in ihrer Sprachentwicklung zurück. Schon länger ist bekannt, dass einerseits genetische Faktoren für die Erkrankung eine Rolle spielen, aber auch vorgeburtliche und in der Kindheit wirksame Umwelteinflüsse.
Fieber half, einen Wirkstoff zu finden
Die genauen biologischen und physiologischen Ursachen der Entwicklungsstörung aber sind bisher unbekannt. Und auch eine medikamentöse Therapie, die alle Symptome beseitigt, gibt es bisher nicht. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass der Zellstoffwechsel bei Patienten mit autistischen Entwicklungsstörungen verändert ist – und dies bot einen möglichen Ansatzpunkt, wie Kanwaljit Singh vom Massachusetts Hospital for Children in Lexington und seine Kollegen erklären.
Ausgangspunkt für ihre Studie waren Berichte von Eltern autistischer Kinder, nach denen deren Symptome immer dann besser wurden, wenn die Kinder Fieber hatten. Die Vermutung der Forscher: möglicherweise normalisieren die bei Fieber einsetzenden zellulären Hitzeschutzreaktionen die autismusbedingten Störungen in den Zellen. Sie suchte daher nach einem Stoff, der in den Zellen eine ähnliche Reaktion hervorruft wie das Fieber, ohne die schädlichen Begleiterscheinungen hervorzurufen.
Inhaltsstoff aus Brokkolisprossen im Test
Bei einem Inhaltsstoff von Brokkoli und anderen Kohlsorten wurden die Wissenschaftler fündig: Das Sulforaphan. Dieses Isothiocyanat fördert die zellulären Schutzmechanismen und kurbelt zudem den Zellstoffwechsel an, wie Vorversuche zeigten. Ob dieser Wirkstoff auch bei Autismus hilft, testeten die Forscher erstmals in einer Placebo-kontrollierten Blindstudie, an der 44 an einer autistischen Entwicklungsstörung erkrankten Jungen und jungen Erwachsenen teilnahmen.
Vor Beginn der Studie wurden alle Teilnehmer durch Ärzte und Psychologen auf ihr Verhalten, ihren psychischen und sozialen Entwicklungsstand und die Schwere ihrer Autismus-Symptome hin untersucht. Dann erhielten 29 zufällig ausgewählte Teilnehmer täglich je nach Körpergewicht eine Dosis von 9 bis 27 Milligramm Sulforaphan, die restlichen bekamen ohne es zu wissen nur ein Scheinpräparat.
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Deutliche Verbesserung schon nach vier Wochen
Bereits nach vier Wochen zeigten sich erste Unterschiede, nach 18 Wochen waren sie nicht mehr zu übersehen: Die Teilnehmer der Sulforaphan-Gruppe zeigten in den Tests nun deutlich schwächere Autismus-Symptome. Sie kommunizierten mehr, zeigten weniger stereotype Verhaltensweisen und suchten mehr Blickkontakt als früher, wie die Forscher berichten. Auch ihre Werte in den psychologischen Tests hatten sich um fast die Hälfte gebessert. Diese positive Wirkung hielt allerdings nur so lange an, wie die Teilnehmer das Mittel einnahmen.
„Das könnte die erste Therapie für Autismus sein, die die Symptome lindert, indem sie einige der zugrundeliegenden zellulären Probleme beseitigt“, konstatiert Studienleiter Paul Talalay von der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore. Das sei enorm ermutigend, auch wenn die Therapie nicht bei allen Teilnehmern anschlug, wie die Forscher einräumen. Rund ein Drittel der Jungen in der Sulforaphan-Gruppe zeigte kaum Verbesserungen.
Einfach Brokkoli zu essen bringt es nicht
„Wir sind noch weit davon entfernt, einen Sieg über den Autismus ausrufen zu können“, betont Ko-Studienleiter Andrew Zimmerman von der University of Massachusetts Medical School. „Aber diese Ergebnisse geben uns wertvolle Einblicke darin, was gegen die Störung helfen könnte.“ Weitere Studien sollen nun helfen, die Wirkung von Sulforaphan besser zu verstehen und sie zu optimieren.
Eltern mit autistischen Kindern sollten nun allerdings nicht anfangen, ihren Nachwuchs auf eine Brokkoli-Zwangsdiät zu setzen, warnen die Forscher. Zum einen enthält Kohl bei weitem zu wenig Sulforaphan um wirksam zu sein. Zum anderen muss die in den Pflanzen enthaltene Variante dieses Stoffs erst im Körper umgewandelt werden, um zu wirken – und dies passiert nicht bei jedem gleich effektiv. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2014; doi: 10.1073/pnas.1416940111)
(Johns Hopkins Medicine / PNAS, 14.10.2014 – NPO)