Zwischen Leben und Tod: Ob Nahtod-Erfahrungen bloße Halluzinationen sind, oder doch reale Erinnerungen und Eindrücke haben Forscher in der bisher größte Studie dazu überprüft – mit teilweise verblüffenden Ergebnissen. So berichtete ein Wiederbelebter nicht nur, außerhalb seines Körpers umhergeschwebt zu sein, er konnte auch genau wiedergeben, was während seines Herzstillstands im Raum geschah.
Einige sehen einen dunklen Tunnel mit hellem Licht am Ende, andere berichten davon, dass sie sich von ihrem Körper gelöst hatten und diesen von oben sahen. Über Nahtod-Erfahrungen gibt es die unterschiedlichsten Berichte, meist stammen sie von Patienten, die nach einem Herzstillstand wiederbelebt wurden. Schätzungen nach sollen etwa zehn Prozent solcher Patienten Nahtod-Erlebnisse gemacht haben.
Bilder für die außerkörperliche Erfahrung
Was medizinisch und neurologisch hinter diesen Erfahrungen steckt, wurde bisher allerdings nur ein Einzelfällen näher untersucht – mit entsprechend unklaren Ergebnissen, wie Sam Parnia vom Stony Brook Medical Center in New York und seine Kollegen berichten. Meist gelten die Erfahrungen als Halluzinationen, die durch die körperliche Extremsituation hervorgerufen werden.
Um hier mehr Klarheit zu schaffen, begannen sie 2008 eine großangelegte Studie, an der 2060 Patienten in fünf Krankenhäusern in Großbritannien, Österreich und den USA teilnahmen. Eigens für diese AWARE (AWAreness during REsuscitation) Studie präparierten die Forscher mehrere Räume in den Kliniken. Sie legten dort verschiedene bunte Bilder so auf Wandregale, dass sie nur von oben erkennbar waren – beispielsweise von einem an der Decke Schwebenden. Damit wollten sie testen, ob bei außerkörperlichen Wahrnehmungen während der Nahtod-Erlebnisse reale Ereignisse gesehen werden.
Friede, Schnellvorlauf und ein Schweben
Von den 330 Patienten, die einen Herzstillstand erlitten und überlebten, unterzogen die Forscher 140 kurz danach einer ausführlichen Befragung. Dabei setzen sie unter anderem die sogenannte Greyson NDE-Skala ein, einen eigens auf Nahtod-Erlebnisse abgestimmten Fragebogen. 55 Patienten gaben dabei an, sich an Erlebnisse und Gedanken erinnern zu können, die sich während der Zeit ihres Herzstillstands und ihrer Wiederbelebung ereigneten. „Das ist ungewöhnlich viel und sollte durch weitere Studien überprüft werden“, sagen Parnia und seine Kollegen. Knapp die Hälfte dieser Patienten beschrieb Gefühle des Friedens und der scheinbar geschärften Sinne.
Nach näherer Befragung allerdings blieben nur neun Patienten übrig, deren Berichte auf echte Nahtod-Erfahrungen hindeuteten, wie die Forscher berichten. Dazu gehörte das Gefühl, dass alles plötzlich schneller oder langsamer ablief als normal, intensive Freude und auch das Gefühl, außerhalb des Körpers zu schweben. Letzteres allerdings passierte ausgerechnet bei den Patienten, die außerhalb der Räume reanimiert werden mussten, die eigens für die Studie mit den Bilderregalen ausgerüstet waren. Es war daher nicht möglich, dies zu nutzen, um herauszufinden, wie real ihre Wahrnehmung während der außerkörperlichen Erfahrung tatsächlich war.
Erstaunlich reale Erinnerungen
Ein Patient allerdings, ein 57-jähriger Mann, berichtet Erstaunliches: „Er beschrieb die Menschen, Töne und Aktivitäten, die während seines Herzstillstands präsent waren, ganz akkurat und zutreffend“, so die Forscher. So beschrieb der Patient, dass er an der Decke des Raumes schwebte, während unter ihm ein kahlköpfiger Mann und eine Schwester an seinem Körper hantierten. Außerdem hörte er eine Computerstimme sagen: „shock the patient, shock the patient“. Tatsächlich bestätigten die Krankenakten, dass ein automatisches Notfallprogramm angesprungen war und dass einer der behandelnden und erst nach dem Herzstillstand hinzu gekommenen Mediziner kahlköpfig war. „Die detaillierten Erinnerungen stimmten in diesem Fall genau mit den realen Ereignissen überein“, sagt Parnia.
Hirnaktivität trotz Herzstillstand?
Seltsam daran ist auch, dass diese Erinnerungen aus der Zeit zu stammen schienen, in der das Herz des Patienten definitiv stillstand und damit auch die Blutzufuhr zu seinem Gehirn unterbrochen war. „Bewusstsein und Wahrnehmung ereigneten sich in einer dreiminütigen Zeitperiode, als er keinen Herzschlag hatte“, erzählt Parnia. „Das ist paradox, denn normalerweise hört das Gehirn schon 20 bis 30 Sekunden nach dem Herzstillstand auf zu funktionieren.“
Nach Ansicht der Forscher spricht dieser Fall dagegen, dass es sich bei Nahtod-Erfahrungen um bloße Halluzinationen handelt. Denn zumindest dieser Patient erlebte die realen Ereignisse während seiner Wiederbelebung offenbar auf irgendeine Weise mit – trotz Herzstillstand. Noch ist nicht klar, wie sich dieses Paradox erklären lässt. Die Forscher schließen aber daraus, dass sich solche Nahtod-Erfahrungen grundlegend von Erfahrungen von Komapatienten oder Narkotisierten unterscheiden.
„Wir brauchen mehr vorurteilsfreie Untersuchungen“
Bereits die Pilotphase der AWARE-Studie zeige damit einerseits, dass Nahtod-Erlebnisse vielfältiger sein können als bisher angenommen, so die Forscher. Denn während sich immerhin 55 Patienten an Eindrücke oder Gefühle während ihres Herzstillstands erinnerten, erfüllten nur neun davon die typischen Kriterien der Nahtod-Erfahrungen.
„Zwar konnten wir bei den meisten Patienten nicht eindeutig überprüfen, wie real ihre Erlebnisse waren, als Halluzinationen kategorisieren können wir sie aber auch nicht“, sagt Parnia. Zumindest der eine Fall gebe Anlass zum Nachdenken. „Wir brauchen mehr echte, vorurteilsfreie Untersuchungen zu den Erfahrungen rund um den Tod“, fasst der Forscher seine Schlussfolgerungen zusammen. (Resuscitation, 2014; doi: 10.1016/j.resuscitation.2014.09.004)
(University of Southampton, 10.10.2014 – NPO)