Prothese mit Tastsinn: US-Forscher haben eine neuartige Prothese entwickelt, die Amputierten den Tastsinn in ihrer verlorenen Hand zurückgibt. Zwei Patienten tragen diesen Prototyp bereits – und für sie ist das Greifen eines rohen Eis und das Festhalten einer Tomate kein Problem mehr. Denn die Prothese verleiht ihnen ein besseres Gefühl für Texturen und ihre eigene Griffstärke, wie die Forscher im Fachmagazin „Science Translational Medicine“ berichten.
Igor Spetic hasst Wattebäusche: Berührt man seine Haut mit einem der faserigen, weichen Knäuel, bekommt er eine Gänsehaut. Als Spetic dann vor vier Jahren seine rechte Hand bei einem Arbeitsunfall verlor, bekam er zwar eine Prothese, aber fühlen konnte er damit nichts. Jetzt jedoch ist die Gänsehaut zurückgekehrt: Spetic trägt eine neuartige Handprothese, die ihn erstmals wieder etwas spüren lässt. Selbst wenn er eine Augenbinde trägt, kann er unterscheiden, ob seine Prothesenfinger mit einen Stück Sandpapier, einem Glasstab oder aber einem Wattebausch berührt wird.
Möglich wird dies dadurch, dass seine Prothese elektrische Signale an die Nerven seines Armes sendet. Diese erzeugen nach einer Eingewöhnungszeit im Gehirn ein dem ursprünglichen Sinneseindruck ähnliches Gefühl. Konstruiert haben diese Prothese Daniel Tan von der Case Western University in Cleveland und seine Kollegen.
Elektrodenmanschette am Armnerv
Die Prothese funktioniert, indem winzige Elektrodenmanschetten an drei Stellen um wichtige Armnervenbündel implantiert werden. Diese Elektroden könne Muster elektrischer Impulse in insgesamt 20 Kanälen erzeugen und an den Nerven übertragen. Über kleine Leitungen, die aus der Haut ragen, lassen sich diese Elektroden an die Prothese anschließen, wie die Forscher berichten. An den künstlichen Fingern der Prothese sitzen Tastsensoren, die über einen speziellen Algorithmus die empfangenen Reize in elektrische Signalmuster umwandeln und an die Elektroden senden.
Spetic, der diese Spezialprothese 2012 bekam, spürte zuerst nur ein unspezifisches Kitzeln. Die Forscher veränderten daraufhin die Algorithmen solange, bis der Patient relativ natürliche Sinneseinrücke fühlte. „Er beschrieb das Gefühl ja nach Reiz als pulsierenden oder konstanten Druck, als Vibration oder Tippen oder als Reiben über eine Textur“, berichten Tan und seine Kollegen.
Gehirn wandelt Signale in Tastgefühl um
Im Laufe der Zeit lernten Spetic und ein weiterer Patient, der das System vor eineinhalb Jahren eingepflanzt bekam, die von den Elektroden verursachten Gefühle bestimmte Texturen und Tastreizen zuzuordnen. „Das System reaktiviert die Areale im Gehirn, die Tastreize verarbeitet“, erklärt Seniorautor Dustin Tyler von der Case Western University. Zwar erzeugen die elektrischen Impulse nicht genau die gleichen Reaktionen im Gehirn, wie die echten, ursprünglichen Tastreize der verlorenen Hand.
Dennoch passt sich das Gehirn so gut an die neuen Signale an, dass es erstaunlich detaillierte und natürliche Sinneseindrücke erzeugt, wie die Forscher berichten. So können Spetic und sein Mitpatient mit ihrer Prothese verschiedene Texturen unterscheiden – und dies selbst dann, wenn sie diese zur gleichen Zeit mit zwei verschiedenen Stellen der künstlichen Hand berühren.
Macht selbst sensible Handgriffe möglich
Aber nicht nur das: Das neu gewonnene Tastgefühl verbesserte auch die Funktion der Prothese entscheidend: „Ohne Gefühl können Amputierte ihre Prothese normalerweise nur für grobe Aufgaben wie Festhalten oder abstützen nutzen“, erklären die Forscher. Dank der elektrodenvermittelten Sinneseindrücke jedoch schafften die beiden Patienten es nun sogar, extrem diffizile Bewegungen auszuführen.
So gelang es den beiden Prothesenträgern beispielsweise blind, eine Kirsche aufzunehmen und ihren Stiel zu entfernen – eine Aufgabe, bei der es enorm auf die richtige Dosierung der Kraft ankommt. „Wenn das Gefühl angeschaltet ist, ist das kein Problem, fehlt es aber, produziert man ziemlich viel Kirschsaft“, sagt Prothesenträger Keith Vonderhuevel aus Sydney.
Verfügbar schon in fünf Jahren?
Noch sind die Prothesen von Spetic und Vonderhuevel nur Prototypen. Doch die Forscher hoffen, dass sie schon innerhalb der nächsten fünf Jahre das System so weit optimiert haben, dass es auch für andere Patienten verfügbar und im Alltag nutzbar wird. Gleichzeitig arbeiten sie auch an Erweiterungen, denn die gleiche Technologie könnte auch eingesetzt werden, um Fuß- und Unterschenkelamputierten ein besseres Gefühl für den Untergrund zu geben und so ihre Stand- und Gehfestigkeit zu erhöhen. (Science Translational Medicine, 2014; doi: 10.1126/scitranslmed.3008669)
(Case Western Reserve University, 09.10.2014 – NPO)