Medizin

Wachkoma: Hitchcock als Bewusstseinstest?

Gehirn eines scheinbar bewusstlosen Komapatienten reagiert auf Filmhandlung

Ein Wachkoma-Patient wird in den Magnetresonanz-Tomografen geschoben © Lorina Naci

Wie viel Bewusstsein hat ein Wachkoma-Patient? Diese Frage könnte künftig mit einer ungewöhnlichen Methode geklärt werden: einem Hitchcock-Kurzfilm. Denn dieser weckt beim Betrachten spezielle Hirnreaktionen, die verraten, ob jemand bewusst der Handlung folgt oder nicht. In einem Experiment kanadischer Forscher zeigte ein seit 16 Jahren im Wachkoma liegender, vermeintlich komplett bewusstloser Patient die gleiche Hirnreaktion wie gesunde Probanden – er war offenbar bei Bewusstsein, obwohl alle Tests zuvor auf das Gegenteil hingedeutet hatten.

Ob ein Mensch bei Bewusstsein ist oder nicht, ist schwerer festzustellen als man glaubt – wenn dieser nicht mehr kommunizieren kann. Gerade in letzter Zeit wurden mehrere Fälle bekannt, bei denen Patienten quasi bei vollem Bewusstsein in ihrem Körper gefangen waren, von anderen aber für bewusstlos oder im Koma liegend gehalten wurden. Auch bei Wachkoma-Patienten ist oft strittig, inwieweit diese ihre Umwelt wahrnehmen können.

Synchrone Aktivität zeigt bewusst Reaktion

Auf der Suche nach eindeutigeren Signalen für ein Bewusstsein wählten Lorina Naci vom Brain and Mind Institute der Western University und ihre Kollegen einen etwas ungewöhnlichen Weg: Sie zeigten zunächst zwölf gesunden Probanden einen Kurzfilm von Alfred Hitchcock – mit entsprechend spannender Handlung. Währenddessen wurde ihre Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) aufgezeichnet.

Wie sich zeigte, reagierte das Gehirn der Probanden auf den Hitchcock-Film ähnlich, wie es dies auch in realen Situationen tut: Netzwerke von Neuronen im frontalen und parietalen Cortex begannen synchron zu feuern. Sie sind für die Verarbeitung und Bewertung von Sinnesreizen zuständig, werden aber auch aktiv, wenn wir entscheiden, was auf eine bestimmte Handlung eines anderen folgt und wie wir auf eine Situation reagieren.

Beim Verfolgen der Handlung zeigen sich typische Muster in der Hirnaktivität © Lorina Naci

Zieht im Film beispielweise einer der Protagonisten eine Waffe, dann laufen in unserem Gehirn automatisch Assoziationsketten ab, wir verknüpfen unsere Erfahrungen mit Waffen und ihren Folgen mit dem Beobachteten. Die Forscher konnten anhand der Hirnaktivität der Teilnehmer nicht nur feststellen, dass sie gerade den spannenden Film sahen und nicht einen Kontrollfilm ohne Handlung, anhand der Signale ließ sich sogar feststellen, ob gerade eine spannende Stelle lief. Im Ruhezustand oder beim Betrachten eines Films ohne Handlung trat diese Aktivität nicht auf.

Zwei Wachkoma-Patienten im Test

Die große Frage war nun, ob auch ein Patient im Wachkoma – trotz vermeintlicher Bewusstlosigkeit – auf diesem Film ähnlich reagieren würde. Um das herauszufinden, testeten die Forscher die Reaktion von zwei bereits seit einigen Jahren im Wachkoma liegenden Patienten, die durch Unfälle Hirnschädigungen davon getragen hatten.

„Obwohl sie bei wenigen isolierten Anlässen Objekte mit den Augen verfolgt hatten, zeigte keiner von ihnen irgendwelche Zeichen höheren Bewusstseins oder irgendeine Form der Kommunikation“, erklären die Wissenschaftler. Ähnlich wie bei den gesunden Probanden bekamen auch diese beiden Patienten den Hitchcock-Kurzfilm gezeigt, während sie im Hirnscanner lagen.

Hirnreaktionen bei Gesunden und den beiden Wachkoma-Patienten im Vergleich © Naci et al. /PNAS

Erstaunliche Reaktion

Das Ergebnis war überraschend: Einer der beiden, ein Patient, der seit 16 Jahren im Wachkoma gelegen hatte, reagierte tatsächlich. Auch in seinem Gehirn sprangen die Netzwerke an, die bei gesunden Probanden auf die Handlung reagierten. „Das spricht dafür, dass der Patient beim Anschauen des Films eine bewusste Erfahrung erlebt hat – ähnlich der der gesunden Probanden“, so die Forscher. „Angesichts seiner 16-jährigen Krankengeschichte, bei der es keine Anzeichen dafür gab, dass er auf Reize der Außenwelt reagiert, ist das erstaunlich.“

Die eindeutigen Parallelen zwischen der Hirnaktivität dieses Patienten und denen von gesunden Probanden deutet nach Ansicht der Wissenschaftler darauf hin, dass der Wachkoma-Patient trotz seiner vermeintlichen Bewusstlosigkeit durchaus noch eine Form höheren Bewusstseins besitzt.

Methode könnte Fehldiagnosen vermeiden

„Zum ersten Mal haben wir nachgewiesen, dass ein Patient mit unbekanntem Bewusstseinszustand genauso Informationen aus seiner Umwelt aufnehmen und analysieren kann wie gesunde Menschen“, sagt Naci. Ihrer Ansicht nach könnte die von ihnen angewandte Testmethode auch in anderen Fällen helfen, nach Spuren von Bewusstsein bei nicht mehr reagierenden Patienten zu suchen.

„Schon heute wissen wir, dass einer von fünf Wachkoma-Patienten als ohne Bewusstsein fehldiagnostiziert wird“, so Naci. „Diese neue Technologie kann hoffentlich dazu beitragen, diese Zahl zu senken.“ Nach Ansicht der Forscher hat dies daher wichtige praktische und ethische Bedeutung für die Diagnose und die Pflege solcher Patienten. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2014; doi: 10.1073/pnas.1407007111)

(PNAS/ Western University, 30.09.2014 – NPO)

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