Nordlichter werden älter: Wer im Nordwesten Deutschlands oder in Berlin geboren wurde, hat die höchsten Chancen, mehr als hundert Jahre alt zu werden. Denn dort leben die meisten Uralten in Deutschland. Das zeigen neue Auswertungen deutscher Forscher. Ihre Karte belegt erstmals, dass es Deutschland regionale Hotspots extremer Langlebigkeit gibt. Überraschend dabei: Großstädte scheinen trotz Stress und Umweltproblemen ein hohes Alter zu fördern.
Aus Japan, eines Gebirgsregionen des Kaukasus und Sardinien kennt man das: In diesen Gebieten werden die Menschen erstaunlich alt und bleiben dabei zudem noch fit. Die rüstigen Senioren sind zwar mehr als hundert Jahre alt, aber sie haben kaum Probleme mit Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes oder ähnlichem und sind körperlich und geistig so rege wie 30 Jahre Jüngere. Schon länger erforschen Wissenschaftler die Gründe, warum einige Menschen besonders alt werden. Auch in Deutschland laufen Studien, die solche Höchstbetagten untersuchen.
Hotspots im Norden
Eine neue Karte enthüllt nun, dass es auch in Deutschland „Nester“ von Uralten gibt – Regionen, in denen auffallend viele Menschen 100 Jahre und älter werden. Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock hatten dafür Daten von extrem Langlebigen aufbereitet, die in der Zeit von 1989 bis 2002 ein Alter von 105 oder mehr erreicht hatten, also Ende des 19. Jahrhunderts geboren worden waren.
Die Auswertung ergab ein deutliches Nord-Süd-Gefälle: In Bayern erreicht der Anteil der Höchstaltrigen stellenweise nur die Hälfte des Bundesdurchschnitts, wie die Forscher berichten. Oberbayern bleibt sogar um 63 Prozent hinter dem Mittelwert zurück. Im Nordwesten Deutschlands tummeln sich dagegen fast doppelt so viele fitte Uralte wie im Durchschnitt. Spitzenreiter sind dabei ausgerechnet die Großstädte Hamburg und Berlin, aber auch im Bundesland Schleswig-Holstein und im Umkreis von Hannover leben besonders viele Höchstbetagte.
Langlebigkeitswunder Berlin
Überraschend dabei ist vor allem der Kontrast zwischen den Großstädten und ihrem Umland, wie die Forscher berichten: Während in Berlin 59 Prozent mehr Uralte leben als im Bundesdurchschnitt, bleibt das umgebende Brandenburg um fast 30 Prozent darunter. Für München ist die Situation auf niedrigerem Niveau ähnlich, hier leben immerhin noch knapp sechs Prozent mehr Höchstbetagte, während es in Oberbayern 50 Prozent weniger als der Mittelwert sind.
„Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Großstädte in den beiden Weltkriegen von Hungersnöten und Bombardierungen stark betroffen waren“, sagt Studienleiter Sebastian Klüsener. Die besseren wirtschaftlichen und medizinischen Bedingungen scheinen die Kriegsfolgen aber mehr als ausgeglichen zu haben. Metropolen bieten offenbar besonders für sehr alte Menschen höhere Überlebenschancen, wozu der gute Zugang zu medizinischer Versorgung beitragen könnte.
Besonders sesshaft
Eines scheint dabei die Höchstbetagten zu verbinden: Fast alle blieben bis zu ihrem Tod an ihrem Geburtsort oder in dessen Umgebung wohnen. „Die Höchstaltrigen scheinen überraschend sesshaft gewesen zu sein“, sagt Klüsener. Die Hälfte der Uralten wohnte am Lebensende nicht weiter als 25 Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt, ein Drittel starb in ihrem Geburtsort. MPIDR-Demograf Rembrandt Scholz findet es darum „sinnvoll, nach Ursachen für die außergewöhnliche Langlebigkeit an diesen Orten zu forschen“. Ob Sesshaftigkeit tatsächlich zu einem Überlebensvorteil führt, konnten die Forscher mit den vorhandenen Daten allerdings nicht klären.
Noch ist unklar, was Menschen uralt werden lässt: Umgebung, Gene, oder beides? Die Kartierung der Höchstaltrigkeit könnte mehr Verständnis bringen: Sind vor allem die örtlichen Lebensbedingungen für extreme Langlebigkeit wichtig, müssten sich die Hotspots in den nächsten Jahren verschieben und vermehrt in der Nähe der Alpen zu finden sein. Denn die Lebenserwartung bei Geburt ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr im Norden, sondern im Süden am höchsten.
Sind die Gene schuld?
Spielen die Gene eine größere Rolle, könnten die Hotspots hingegen im Norden verbleiben. Ein Indiz dafür könnte sein, dass dort Geburtsgewicht und -größe am höchsten sind – und beide Faktoren sind stark von den Genen abhängig. Hierdurch ist es wahrscheinlich, dass Neugeborene im Norden bereits vor hundert Jahren größer und schwerer waren, was sich zumindest unten den damaligen Bedingungen förderlich auf die Überlebenswahrscheinlichkeit ausgewirkt haben könnte.
Menschen, die ein Jahrhundert oder mehr erleben, dürften künftig vom Ausnahme- zum Normalfall werden. So hat sich ihre Zahl in Deutschland in den letzten 30 Jahren nach MPIDR-Schätzungen etwa verzehnfacht. 2012 wurden gut 14.000 Menschen hundert oder älter. Entwickelt sich die Lebenserwartung wie in den letzten 150 Jahren, wird bereits jedes zweite heute in Deutschland geborene Kind ein Alter von 100 Jahren erreichen.
(Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR), 02.04.2014 – NPO)