Milch, Joghurt und Käse: Was heute hierzulande auf fast jedem Frühstückstisch steht, war nicht schon immer für den Menschen genießbar. Wie sich die Fähigkeit, Milchprodukte zu verdauen, in Europa ausgebreitet hat, haben Wissenschaftler aus der Schweiz näher untersucht. Sie fanden heraus: Bereits im Mittelalter konnten Mitteleuropäer Milch, Joghurt und Käse ebenso gut verdauen wie wir heute. Zudem zeigt die nun dazu im Online-Journal „PLOS ONE“ veröffentlichte Studie, dass sich die Milchverträglichkeit in Europa früher verbreitete, als bisher angenommen.
Milch ist das Grundnahrungsmittel für Säuglinge und enthält den Zucker Laktose. Dieser Hauptbestandteil der Milch muss im Dünndarm vom Enzym Laktase aufgespalten werden, um Milch problemlos verdauen zu können. Die meisten Säugetiere, ursprünglich auch Menschen, verlieren allerdings im Verlaufe des Wachstums die Fähigkeit, Laktose zu verdauen: Während des Älterwerdens wird das Laktase-Gen langsam ausgeschaltet. Durch den auftretenden Mangel an Laktase gelangt der Milchzucker unverdaut in den Dickdarm. Die dort angesiedelten Darmbakterien wandeln sie dann in verschiedene Säuren und Wasserstoffgas um, was bei Menschen zu den schmerzhaften Symptomen der Milchunverträglichkeit führen kann.
Milchverdauung seit der Steinzeit
Mindestens fünf verschiedene Populationen in Europa, Saudi Arabien und Ostafrika haben jedoch unabhängig voneinander genetische Mutationen entwickelt, die ihnen die Produktion von Laktose während des gesamten Lebens ermöglicht, die sogenannte Laktasepersistenz. Nicht nur die Milch selbst, auch Milchprodukte wie Joghurt und Käse spielen seit langem eine zentrale Rolle in der europäischen Küche und der kulturellen Identität. Heutzutage sind 60 bis 90 Prozent der europäischen Bevölkerung laktasepersistent und können deshalb auch als Erwachsene Milch verdauen.
Das war jedoch nicht immer so: Frühere Studien an fossiler DNA von europäischen Bauern aus der Zeit um 5.000 vor Christus zeigten, dass diese den Milchzucker noch kaum verdauen konnten. Erst in Proben aus der späten Jungsteinzeit, ca. 3.000 vor Christus, lässt sich eine Genmutation finden, die Laktose auch für ausgewachsene Europäer verträglich macht. Die Daten stammen jedoch aus dem heutigen Südfrankreich und aus Skandinavien, und zeigen eine deutlich seltenere Laktasepersistenz als heute. Wie und wie schnell sich die Laktoseverdauung in Mitteleuropa verbreitete, verraten diese Funde nicht.
Proben aus mittelalterlichen Zähnen
Vor allem eine Frage bestand daher fort: Wo und wann trat beim Menschen eine ähnlich hohe Laktasepersistenz auf, wie sie heute in Mitteleuropa verbreitet ist? Die Forscher um Christina Warinner von der Universität Zürich suchten eine Antwort bei Ausgrabungen auf einem mittelalterlichen Friedhof im nordrhein-westfälischen Dalheim. Sie nahmen DNA-Proben aus den Zähnen von 36 Menschen aus der Zeit von 950 bis 1200 nach Christus. Analysen dieser Proben zeigten eine Laktasepersistenz von 72 Prozent. Dies weist darauf hin, dass die Menschen in Mitteleuropa schon vor rund tausend Jahren Laktose etwa genauso gut verdauen konnten wie wir heute. Bei uns liegt die Rate der Laktasepersistenz bei etwa 71 bis 80 Prozent
Interessanterweise stehen diese Resultate im Gegensatz zu früheren Forschungen an menschlichen Überresten aus dem mittelalterlichen Ungarn: Diese zeigten eine Laktasepersistenz von nur 35 Prozent, verglichen mit 61 Prozent im heutigen Ungarn. Das deutet darauf hin, dass die Evolution dieser Fähigkeit nicht überall quer durch Europa gleich schnell verlief. Außerdem zeigt die Studie, dass genetische Laktasepersistenz in Zentraleuropa vermutlich früher verbreitet war als in Osteuropa.
„Zweifellos spielten bei der Verbreitung diverse Faktoren wie unterschiedliche Ernährungs-, Migrationsmuster sowie Einwanderung in verschiedenen Regionen eine Rolle“, erklärt Warinner, die Leiterin der Studie. „Unsere Forschung zeigt, dass in Mitteleuropa die Entwicklung zur hohen Laktasepersistenz bereits im Mittelalter stattgefunden hatte. Dies war jedoch sicherlich nicht überall in Europa der Fall.“ (PLOS ONE, 2014; doi: 10.1371/journal.pone.0086251)
(Universität Zürich, 24.01.2014 – AKR)