Biologie

Giftiges Mutterkorn breitet sich an der Nordsee aus

Befall großer Schlickgras-Flächen könnte auch Kinder und Tiere gefährden

Mutterkorn-Sklerotium mit Fruchtkörpern © Odile Jacquin/CC-by-sa 3.0

Weite Teile der Schlickgraswiesen entlang der Nordsee sind von hochgiftigem Mutterkorn befallen. Forscher fanden den parasitischen Pilz nahezu überall an der Wattenmeerküste. Untersuchungen ergaben, dass die Dichte und Giftigkeit des Mutterkorns in den Rispen des Schlickgrases dabei viele höher ist als bei Getreide, dem typischen Wirt des Pilzes. Da das befallene Schlickgras auch die Deiche hinauf wächst und entlang von Schafweiden, sei das eine potenzielle Gefahr auch für Kinder, Hunde und Schafe, warnen die Forscher.

Eigentlich wollten sie nur Saatgut für ein Botanik-Forschungsprojekt an der Nordseeküste sammeln. Doch als Forscher der Universität Hannover in der Salzmarsch am Jadebusen unterwegs waren, machten sie eine erstaunliche Entdeckung. Fast überall in den Rispen des dort wachsenden Schlickgrases (Spartina anglica) fanden sie violett-schwarz schillernde sporenartige Gebilde: Mutterkorn. „Als ich die Bilder sah, habe ich sofort an Mutterkorn gedacht“, erinnert sich Jutta Papenbrock vom Institut für Botanik der Universität Hannover.

Mutterkorn, mit wissenschaftlichem Namen Claviceps purpurea, ist ein Pilz, der normalerweise Roggen, aber auch andere Getreidepflanzen befällt, und hochgiftig ist. Im Mittelalter war die Mutterkorn-Vergiftung, das so genannte Antoniusfeuer, mit geistiger Verwirrung und zum Tode führenden Organschäden extrem gefürchtet. Eine Darstellung auf dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald in Colmar zeigt eindrucksvoll einen Menschen, der am „Antoniusfeuer“ leidet. Heute besteht bei Getreide aus konventioneller Landwirtschaft keine Gefahr mehr.

Horst des Schlickgrases Spartina (Spartina anglica) im Watt vor der Nordseeinsel Spiekeroog © Jürgen Howaldt / CC-by-sa 2.0 de

Mehr und giftigere Pilzorgane

„Dass Mutterkorn auch Schlickgras besiedelt, war uns neu“, sagt Papenbrock. Um das Ausmaß des Befalls genauer abschätzen zu können, fuhren Mitarbeiter des Instituts die gesamte Wattenmeerküste von den Niederlanden bis nach Dänemark ab und untersuchten die Schlickgras-Bestände. Und tatsächlich – überall in den Rispen fanden sich die Überwinterungsorgane des Pilzes, sogenannte Sklerotien, und zwar deutlich mehr als sonst auf Roggen zu finden sind.

Daraufhin taten sich die Biologen mit einer Arbeitsgruppe der Stiftung Tierärztliche Hochschule (TiHo) zusammen. Die Wissenschaftler untersuchten, wie giftig das Schlickgras-Mutterkorn tatsächlich ist. „Es kam heraus, dass die Konzentrationen der giftigen Mutterkorn-Alkaloide sogar höher waren als beim Roggen-Mutterkorn“, berichtet Papenbrock. „Mehrere der Sklerotien können bereits ein Kleinkind töten.“

Gefahr für Schafe, Kinder und Hunde

Sorgen macht den Wissenschaftlern, dass das zur Küstenbefestigung gepflanzte Schlickgras inzwischen fast überall im Küstenbereich bis hoch an die Deiche und auch in der Nähe beweideter Wiesen wächst. Schafe, aber auch Kinder oder Hunde könnten gefährdet sein. Da sich die Sklerotien erst im Herbst entwickeln, seien immerhin die Sommermonate relativ gefahrenfrei. „Allerdings haben wir festgestellt, dass das Gift kaum abgebaut wird“, berichtet Papenbrock. Zudem werden abgefallene Sklerotien später im Spülsaum an vielen Stellen wieder angeschwemmt, haben aber ihre Giftigkeit behalten.

„Wir haben unsere Erkenntnisse den zuständigen Ämtern und der Nationalparkverwaltung mitgeteilt“, sagt Papenbrock. Die Reaktionen seien bisher allerdings dünn. „Um weiter in dem Bereich forschen zu können, brauchen wir fachliche und finanzielle Unterstützung.“ Um die Ausbreitung zu stoppen, müsse man Experten mit ins Boot holen, die sich mit invasiven Arten beschäftigen und auch international zusammenarbeiten. In Deutschland sei dieser Fund der erste, aber aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich gebe es ähnliche Meldungen. Bisherige Bemühungen, Schlickgras durch Mähen oder Verbrennen einzudämmen, blieben weitgehend erfolglos.

(Leibniz Universität Hannover, 22.05.2013 – NPO)

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