Nicht nur ihre schlechteren Augen bereiten älteren Menschen Schwierigkeiten beim Lesen kleiner Schrift. Sie nutzen auch eine andere Lesestrategie, die es ihnen erschwert, feine Details zu erkennen, haben britische Psychologen jetzt entdeckt: Beim Blick auf einen Text erfassen sie einen relativ großen Bereich, in dem sie sich dann vor allem auf die Form und die Länge der Wörter konzentrieren. Jüngere fokussieren dagegen einen kleineren Ausschnitt, in dem sie besonders die feinen Details der Buchstaben auswerten. Dahinter steckt vermutlich ein Nachlassen der Empfindlichkeit des Sehsystems, das mit zunehmendem Alter einsetzt – auch dann, wenn die Sehfähigkeit selbst kaum oder gar nicht eingeschränkt ist. Über ihre Entdeckung berichten Kevin Paterson von der University of Leicester und seine Kollegen im Fachblatt „Psychology and Aging“.
An der Studie der Wissenschaftler nahmen 64 Freiwillige teil, die Hälfte von ihnen im Alter zwischen 18 und 35, die andere Hälfte älter als 65 Jahre. Einziges Aufnahmekriterium war, dass die Probanden gut sehen konnten – entweder dank guter Augen oder mit Hilfe von Brille oder Kontaktlinsen. Denn laut den Forschern gehen die meisten Leseprobleme im Alter auf eine nicht oder nur schlecht korrigierte Fehlsichtigkeit zurück, ein Faktor, den sie in ihrer Untersuchung ausschließen wollten.
Scharfes Blickfeld und manipulierte Peripherie
Im eigentlichen Test blickten die Teilnehmer dann durch eine Art Fernglas auf einen Text, während gleichzeitig ihre Augenbewegungen registriert wurden. Der Text erschien immer dort, wo der Proband gerade hinschaute, in einer normalen Schrift. Außerhalb dieses Sichtfensters manipulierten die Forscher den Text jedoch auf verschiedene Arten und Weisen. Manchmal erschienen sie verschwommen, so dass die einzelnen Buchstaben nur noch schlecht zu erkennen waren, Länge, Position und Form eines Wortes aber erhalten blieben. In anderen Fällen waren nur noch feine Details der Buchstaben zu erkennen, während der grobe Umriss kaum noch zu sehen war. Zudem veränderten sie die Größe des Sichtfensters, in dem der normale Text erschien. Anschließend ließen sie die Probanden Sätze vorlesen und testeten, wie stark die Manipulationen die Lesegeschwindigkeit und das Verständnis des Inhalts beeinträchtigten.
Resultat: Blieb der Text auch außerhalb des Sichtfensters normal, gab es praktisch keinen Unterschied zwischen den beiden Altersgruppen. Die veränderten Buchstaben wirkten sich jedoch vollkommen unterschiedlich auf die Lesefähigkeit aus. So lasen die jüngeren Probanden messbar langsamer, wenn außerhalb des Sichtfeldes nur noch die groben Umrisse der Wörter zu erkennen waren. Mit allen anderen Veränderungen kamen sie problemlos zurecht. Die älteren Testteilnehmer hatten dagegen zwar mit allen Manipulationen Schwierigkeiten. Am problematischsten war das Lesen für sie jedoch dann, wenn nur noch feine Details zu erkennen waren und sie die Wortumrisse nur schlecht sehen konnten. Der Effekt war selbst bei sehr breiten Sichtfenstern zu erkennen, berichten die Forscher.
Gute Kompensation von Problemen
Offenbar nutzt man in jungen Jahren beim Lesen Informationen, die aus einer detaillierten Analyse von Buchstabenfragmenten und einzelnen Buchstaben stammen, resümieren die Wissenschaftler. Dabei konzentriert man sich auf einen kleinen Ausschnitt des Textes und ignoriert den Rest. Im Alter lässt jedoch die Fähigkeit, feine Details wahrzunehmen, nach – nicht nur wegen der meist nachlassenden Sehfähigkeit, sondern auch wegen einer Einschränkung der Signalweiterleitung im Gehirn. Um dieses Problem zu kompensieren, verändern Ältere augenscheinlich ihre Lesestrategie und leiten die notwendigen Informationen aus eher grobkörnigen Analysen von Textlayout, Wortform und Wortlänge ab. Die Strategie gehe offensichtlich in den meisten Fällen auf, sagen die Forscher, denn sowohl Lesegeschwindigkeit als auch das Textverständnis waren in beiden Altersgruppen exakt gleich.
Eine klare Empfehlung, wie man sich das Lesen im Alter erleichtern kann, will Studienleiter Paterson allerdings noch nicht aussprechen. Er vermute zwar, dass Faktoren wie ein klares Schriftbild, breite Buchstaben und größere Abstände zwischen den Buchstaben wichtige Faktoren seien. Um das abschließend zu beurteilen, müsse er jedoch erst bessere Daten vorliegen haben (doi: 10.1037/a0030350).
(Psychology and Aging, 26.11.2012 – ILB)