Geschwister prägten die Lebensgeschichte des Menschen früher viel stärker als heute: Denn sie beeinflussten, ob ein Kind überlebte und auch, ob es später einmal selbst Kinder bekam. Das hat ein internationales Forscherteam bei der Auswertung von finnischen Kirchenbüchern aus dem 18. und 19. Jahrhundert herausgefunden. Demnach stieg die Überlebenschance von jüngeren Geschwistern deutlich, wenn damals ältere Brüder oder Schwestern im Haushalt lebten. Im Erwachsenenalter aber kehrte sich dieser positive Effekt um: Je mehr ältere Brüder ein Mann hatte, desto später heiratete er und desto weniger Nachkommen zeugte er. Bei den Frauen sei der negative Einfluss älterer Schwestern auf die Fortpflanzung sogar noch ausgeprägter gewesen, berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin „Proceedings of the Royal Society B“. Geschwister seien demnach in der Kindheit vor allem Helfer, später aber häufig Konkurrenten – zumindest wenn sie das gleiche Geschlecht haben.
„Unsere Studie zeigt erstmals, dass sich Geschwister je nach Lebensabschnitt und Geschlecht unterschiedlich auswirken“, schreiben Aida Nitsch von der University of Sheffield und ihre Kollegen. Dass es die psychologische und soziale Entwicklung eines Menschen präge, ob er mit oder ohne Geschwister aufwachse, sei schon lange bekannt. Welche Auswirkungen ältere Brüder und Schwestern aber auf den Fortpflanzungserfolg und damit die biologische Fitness unserer Vorfahren hatte, sei bisher noch nie genauer untersucht worden.
Nach Ansicht der Forscher spielen für den Geschwistereffekt vor allem gesellschaftliche Faktoren wie das Erbrecht, soziale Normen und verschiedene wirtschaftliche Rahmenbedingungen eine große Rolle. Es sei daher wahrscheinlich, dass das Ausmaß dieses Effekts je nach Zeitalter und Gesellschaftsform variiere. Weitere Studien auch aus anderen Regionen und mit anderen Völkern seien daher nötig, um mehr über die Bedeutung von Geschwistern auf die Familiengeschichte zu erfahren.
Kirchenbücher enthüllen historische Familiengeschichten
Für ihre Studie hatten die Forscher Kirchenbücher des 18. und 19. Jahrhunderts aus protestantischen Kirchen in fünf Regionen Finnlands untersucht. „Damals war es vom Gesetz vorgeschrieben, dass alle Geburten, Hochzeiten und Todesfälle von den Kirchengemeinden dokumentiert wurden, um daraus die Steuern zu ermitteln“, erklären die Wissenschaftler. Für 10.106 Männer und 9.585 Frauen werteten sie anhand dieser Aufzeichnungen aus, wie viele ältere Geschwister sie hatten, wann sie heirateten und wie viele Kinder sie bekamen. Unter den untersuchten Familien waren sowohl arme Fischer- und Bauernfamilien als auch wohlhabende Adelige und Landbesitzer.
Je mehr ältere Geschwister ein Kind damals hatte, desto eher habe es bis ins Erwachsenenalter überlebt, berichten die Forscher. Jeder ältere Bruder habe beispielsweise die Überlebenswahrscheinlichkeit der jüngeren Geschwister um das rund 1,12-Fache erhöht – vermutlich weil die Brüder auf dem Hof halfen und damit zum Wohlstand der Familie insgesamt beitrugen.
Als Erwachsene zeugten die Männer aber umso weniger Kinder, je mehr ältere Brüder sie hatten, wie Nitsch und ihre Kollegen berichten. Das hänge wahrscheinlich damit zusammen, dass im Finnland jener Zeit der älteste Sohn den Hof erbte und daher am ehesten eine Familie ernähren konnte. Die jüngeren Brüder hatten daher meist weniger Mittel und konnten, wenn überhaupt, meist erst später heiraten. Auch bei den Frauen sank der Fortpflanzungserfolg mit jeder älteren Schwester. Häufig hätten Eltern ihre Töchter nach Reihenfolge ihres Alters verheiratet, sagen die Forscher. Jüngere Schwestern bekamen daher oft erst später oder, wenn die Mitgift nicht reichte, auch gar nicht die Chance, zu heiraten und Kinder zu bekommen. (doi:10.1098/rspb.2012.2313)
(Proceedings of the Royal Society B, 23.11.2012 – NPO)