Obwohl sie schon aufrecht gehen konnten, hielten sich unsere frühen Vorfahren noch häufig in den Bäumen auf. Darauf deuten die Schulterblätter des vor 3,3 Millionen Jahren lebenden Vormenschen Australopithecus afarensis hin. Sie seien in Form und Ausrichtung noch relativ affenähnlich und an eine Lebensweise auf Bäumen angepasst. Demnach habe der Mensch in seiner Entwicklung das Klettern länger beibehalten als bisher angenommen, berichten US-amerikanische Forscher im Fachmagazin „Science“.
Die Wissenschaftler hatten erstmals die Schulterknochen und Wirbelsäule des sogenannten Dikika-Mädchens freipräpariert und untersucht, einem im Jahr 2000 in Äthiopien gefundenen Australopithecus-Skelett. „Die bemerkenswerten Fossilien liefern klare Beweise dafür, dass unsere Vorfahren in diesem Stadium der menschlichen Evolution noch immer auf Bäumen herumkletterten“, sagt Zeresenay Alemseged von der California Academy of Sciences in San Francisco, einer der beiden Autoren der Studie.
Gut erhaltene Schulterknochen sind selten
Die Frage, ob der Vormensch Australopithecus afarensis strikter Zweibeiner war oder auch noch auf Bäumen herumkletterte, wird seit 30 Jahren heftig debattiert. Ein Grund dafür seien fehlende Fossilien des Schultergürtels. „Weil die Schulterblätter so dünn sind, bleiben sie nur selten erhalten – und wenn, dann meist nur in Bruchstücken“, erklärt Alemseged. Zwei intakte Schulterblätter bei dieser Vormenschenart zu finden, sei daher ein echter Jackpot. Das von einem dreijährigen Kind stammende Skelett des Dikika-Mädchens war allerdings beim Fund fast vollständig in einem Sandsteinblock eingebettet. Um die Schulterblätter freizulegen, benötigten die Forscher elf Jahre der vorsichtigen Feinarbeit.
Die genaue Untersuchung der freipräparierten Schulterblätter ergab, dass der Sockel für das Schultergelenk beim Australopithecus-Fossil nach oben zeigte. Damit ähnelt er stark dem der heutigen Menschenaffen. „Diese Form verteilt die Belastung beim Klettern und Über-Kopf-Greifen besser“, berichten die Forscher. Das deute darauf hin, dass auch Australopithecus noch an ein Leben in den Bäumen angepasst gewesen sei. Beim Menschen zeige die Ansatzstelle des Schultergelenks dagegen nach unten und außen.
Der vor 3,3 Millionen Jahren lebenden Australopithecus afarensis besaß demnach zwar schon Füße, Hüften und Beine, die an ein aufrechtes Gehen angepasst waren. Dennoch habe dieser Vormensch auch die ursprünglicheren Anpassungen an eine kletternde Lebensweise zunächst beibehalten, konstatieren die Forscher. „Dies bestätigt die einmalige Stellung, die diese Art in der menschlichen Evolution einnimmt“, sagt Alemseged. Sie sei noch nicht ganz Mensch, aber schon klar auf dem Wege dahin. (doi:10.1126/science.1227123)
(Science, 26.10.2012 – NPO)