Schon vor 15.000 Jahren folgten Eiszeit-Künstler den Regeln des Goldenen Schnitts. Das zeigen 3D-Vermessungen von Schiefergravierungen, die im rheinländischen Gönnersdorf ausgegraben wurden. Demnach müssen diese Werke bereits von spezialisierten Künstlern erstellt worden sein. Sie
unterscheiden sich signifikant von den Nachahmungsversuchen unerfahrener Laien, wie Forscher vom Archäologischen Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution (MONREPOS) in Neuwied im „Journal of Archaeological Science“ berichten.
Mit über 500 Frauen- und 240 Tierbildern sowie zahlreichen nichtfigürlichen Zeichen bilden die Schieferplatten von Gönnersdorf ein einzigartiges Konvolut eiszeitlichen Kunstschaffens. Neben naturalistisch-lebendigen Tiergravuren sind schematische Frauendarstellungen charakteristisch. In der Archäologie sind sie weltweit als „Frauendarstellungen vom Typ Gönnersdorf“ bekannt. Ihre europaweite Verbreitung beweist, dass die Information hinter diesem Symbol und die Regeln seiner Darstellungsweise über alle heutigen Grenzen hinweg verständlich waren. Die gravierte Bildwelt von Gönnersdorf diente offenbar als Kommunikationsmedium und „kollektives Gedächtnis“. Viele Platten wurden wieder und wieder mit neuen Figuren graviert, zufällig oder in choreographierten Szenen, die ganze Geschichten zu erzählen scheinen.
Alltagskunst – in Schiefer erhalten
Eine weitere Besonderheit der Bilderplatten: sie wurden mitten im Siedlungsalltag der eiszeitlichen Jäger und Sammler gefunden. Und der ist durch sorgfältige Ausgrabungen und intensive Forschungen außergewöhnlich detailliert rekonstruiert. Anders als die altsteinzeitlichen Höhlenheiligtümer Süd- und Westeuropas können die Funde von Gönnersdorf dadurch etwas über die alltägliche Funktion von Kunst verraten, über die Künstler und ihre gesellschaftliche Stellung: Welche Rolle spielte Kunst in ihrer Anfangsgeschichte, warum gibt es sie überhaupt? Lassen sich die Funktion und Bedeutung von Kunst bei unseren jäger-sammlerischen Vorfahren mit ihrer heutigen vergleichen?
Um diese Fragen zu beantworten, fertigen die Archäologen hochauflösende 3D-Scans der Gravuren an und vermaßen diese genau. Dabei entdeckten sie zahlreiche neue Details und konnten die Lesart einzelner Figuren korrigieren. Zudem lässt sich nun feststellen, in welcher Reihenfolge die einzelnen Zeichnungen eingeritzt wurden, so dass die Bilderabfolgen auf den Platten rekonstruiert werden können.
Künstler waren unterschiedlich talentiert
Die Auswertungen ergab aber auch, dass die Regeln ästhetischer Wirkung offenbar bereits diesen frühen Künstlern bekannt waren. Pferdegravuren, die noch heute als schön empfunden werden, unterscheiden sich in Metrik und Linienführung signifikant von weniger gelungenen Exemplaren. Erstere wurden bereits nach den Regeln des Goldenen Schnitts proportioniert; eine geschickte Liniendopplung an den richtigen Stellen wirkte als Effektverstärker. Die Forscher schließen daraus, dass sich auf den Gönnersdorfer Schieferplatten teilweise talentierte Künstler verewigt haben, die auf ihr Handwerk spezialisiert waren. Ihre Werke heben sich von Nachahmungsversuchen weniger versierter Graveure ab.
„Unser Sinn für Ästhetik hat sich offenbar über fast 18.000 Jahre nicht verändert. Was wir heute als schön und harmonisch empfinden, wurde auch damals schon so beurteilt. Die Werke dieser Künstler haben sich durchgesetzt und zwar bis heute“, meint die Archäologin Alexandra Güth, die die Schieferplatten untersucht hat. Mit der zurzeit erweiterten Datenbank 3D-gescannter Schieferplatten lassen sich in Zukunft möglicherweise auch Handschriften einzelner Künstler unterscheiden. Die digitale Erfassung ist zugleich der bestmögliche Schutz dieses Kulturerbes, das damit dauerhaft archiviert wird.
(Römisch-Germanisches Zentralmuseum (RGZM) – Forschungsinstitut für Archäologie, 25.10.2012 – NPO)