Ob ein Kind eine Lese-Rechtschreib-Schwäche hat, lässt sich schon im Kindergarten erkennen. Denn bereits vor der Einschulung haben solche Kinder Schwierigkeiten mit Aufgaben, die eine hohe visuelle Aufmerksamkeit erfordern. Das haben italienische Forscher in Tests herausgefunden. Die betroffenen Kinder können ein zuvor kurz gesehenes Muster schlecht von anderen, ähnlichen unterscheiden. Auch Suchspiele, bei denen sie beispielsweise alle Herzen in einer großen Symbolpalette finden und herausstreichen müssen, fallen ihnen schwerer. Kinder mit diesen Problemen hatten in der Schule später auch Probleme mit dem Lesenlernen. Dieses Ergebnis belege, dass die Fähigkeit zur visuellen Aufmerksamkeit bereits im Vorhinein anzeige, ob ein Kind später Schwierigkeiten beim Lesenlernen haben werde oder nicht, berichten die Forscher im Fachmagazin „Current Biology“.
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Bisher hatte man vor allem Schwierigkeiten im Hören und Verstehen von Sprache als Hauptproblem bei der Legasthenie angesehen. Überraschenderweise seien die Defizite in der visuellen Aufmerksamkeit aber sehr viel deutlichere Vorzeichen für eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. „Das ist eine radikale Wende gegenüber dem bisher Bekannten“, sagt Studienleiter Andrea Facoetti von der Universität von Padua. Denn es zeige, dass die Legasthenie auf Störungen in mehreren Bereichen der Wahrnehmung und Verarbeitung von Signalen beruhe.
Nach Ansicht der Forscher könnte die neue Erkenntnis auch die Behandlung von Kindern mit Legasthenie verbessern helfen – einer Störung, von der rund zehn Prozent aller Kinder betroffen seien. So könnten diese Kinder durch einfache visuelle Tests zukünftig früher und leichter erkannt werden. „Jüngste Studien haben zudem gezeigt, dass spezielle Förderprogramme vor dem Lesenlernen die späteren Leseprobleme der Kinder mildern können“, sagt Facoetti. Übungen zur visuellen Aufmerksamkeit könnte bereits im Vorschulalter begonnen werden, um diesen Kindern gezielt zu helfen. Bermerkenswert sei auch, dass bestimmte Action-Computerspiele die visuelle Aufmerksamkeit von Kindern trainieren, wie Studien gezeigt hätten.
Entwicklung von 96 Vorschulkindern verfolgt
Für ihre Studie hatten die Forscher die Entwicklung von 96 Vorschulkindern bis zur zweiten Klasse verfolgt. Jedes Jahr absolvierten die Kinder dabei mehrere Tests zum Gedächtnis und
dem Sprachverständnis, um ihren Entiwcklungsstand zu überprüfen. Mit Tests zur Fähigkeit, Laute bestimmten Wörtern zuzuordnen und zwei Tests zur visuellen Aufmerksamkeit suchten die Forscher gezielt nach Vorzeichen für die Legasthenie.
Im ersten Test erhielten die Kinder ein Blatt mit mehreren Reihen von Symbolen. Darin sollten sie alle Symbole eines Typs – beispielsweise Herzen – durchstreichen. „In diesem Test machten die Kinder, die später Probleme mit dem Lesen hatten, bereits im Vorschulalter doppelt so viele Fehler wie die Kinder ohne Leseschwäche“, berichten Facoetti und seine Kollegen.
Im zweiten Test zeigten die Forscher den Kindern jeweils für sehr kurze Zeit verschiedene Tafeln, auf nur einer davon war eine schräg nach rechts oder links geneigte Ellipse zu sehen. Anschließend sahen die Kinder eine Tafel mit vier verschiedenen, in unterschiedliche Richtungen geneigten Ellipsen, aus der sie die zuvor gesehenen heraussuchen sollten. Auch in diesem Test schnitten die 14 Vorschulkinder schlechter ab, die später in der Schule Probleme mit dem Lesen bekamen. (doi: 10.1016/j.cub.2012.03.013)
(Current Biology / Cell Press, 10.04.2012 – NPO)