Junge Köpfe gelten gemeinhin als besonders leistungsfähig und produktiv – auch und gerade in der Wissenschaft. „Wer seinen großen Beitrag zur Wissenschaft nicht bis zum 30. Lebensjahr geleistet hat, wird dies nie mehr schaffen“, soll der große Physiker Albert Einstein gesagt haben. Doch in diesem Punkt irrte das Genie – zumindest was die heutige Zeit betrifft. Das belegen zwei US-amerikanische Forscher im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“. „Das Klischee vom jungen, brillanten Forscher, der entscheidende Durchbrüche in der Wissenschaft erzielt, ist zunehmend überholt“, sagt Bruce Weinberg von der Ohio State University. Heute machten so gut wie alle Wissenschaftler nobelpreisverdächtige Entdeckungen erst nach dem 30. Lebensjahr, die meisten sogar erst jenseits der 40.
Für ihre Studie hatten die Forscher den wissenschaftlichen Werdegang von insgesamt 525 Nobelpreisträgern der Jahre 1900 bis 2008 in Chemie, Physik und Medizin untersucht. Sie ermittelten, in welchem Alter den Forschern ihre ausgezeichneten Arbeiten und Entdeckungen gelungen waren.
„Die Veränderungen in der Altersstruktur sind gewaltig“, schreiben die Wissenschaftler. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts seien zwei Drittel der Forscher unter 40, rund 20 Prozent unter 30 gewesen, als sie ihre entscheidenden Entdeckungen machten. Dieser Zeitpunkt habe sich seither um sieben bis 13 Jahre nach hinten verschoben.
Längere Ausbildung und mehr experimentelle Arbeit
Nach Ansicht der Wissenschaftler könnten zwei Faktoren für diese Verschiebung verantwortlich sein: Zum einen dauere es heute einige Jahre länger, bis junge Wissenschaftler ihre Ausbildung abgeschlossen hätten. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die meisten Forscher mit 25 bereits promoviert. Heute liege das Durchschnittsalter dafür deutlich höher.
Zum anderen sei der Anteil theoretischer Arbeiten früher größer gewesen. „Theoretiker leisten ihre großen Beiträge im Durchschnitt viereinhalb Jahre früher als Forscher, die experimentelle Forschung betreiben“, schreiben Weinberg und sein Mitautor Benjamin Jones von der Northwestern University in Evanston.
Sonderfall Physik
Während sich die Altersverschiebung in Chemie und Medizin relativ gleichmäßig vollzog, stellten die Forscher in der Physik eine Besonderheit fest: Dort nahm der Anteil von preiswürdigen Arbeiten sehr junger Physiker bis 1934 stark zu. Erst danach glich sich die Altersentwicklung wieder dem allgemeinen Trend an.
Nach Ansicht von Weinberg und Jones ist das kein Zufall: Zu dieser Zeit, in den 1920er und 30er Jahren, begann die Ära der Quantenmechanik und brachte einen bedeutenden Umbruch im physikalischen Weltbild mit sich.
„Die Entwicklung der Quantenmechanik bedeutete, dass alte Theorien und bisherigen Wissen plötzlich für die jungen Physiker nicht mehr so relevant war“, sagt Weinberg. Sie seien weniger stark von traditionellen Vorstellungen geprägt und daher offener für Neues gewesen. Dadurch hätten sie schon in vergleichsweise sehr jungen Jahren wichtige neue Beiträge leisten können. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2011; DOI: 10.1073/pnas.1102895108)
(Proceedings of the National Academy of Sciences / dapd, 08.11.2011 – NPO)