Möglicherweise gibt es doch Teilchen, die schneller fliegen können als das Licht. Einen Hinweis dafür haben Physiker bei Messungen am Neutrino-Observatorium im italienischen Gran Sasso entdeckt. Noch müsse das Ergebnis aber durch weitere Experimente überprüft werden, sagen die Forscher. Erst dann könne man sagen, ob dies Anlass zu Zweifeln an Albert Einsteins Relativitätstheorie gebe.
Nach gängiger Theorie können Teilchen, die eine Masse besitzen, nie schneller fliegen als das Licht. Denn mit zunehmender Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit wächst die für ihre Bewegung benötigte Energie so stark an, dass sie diese nie ganz erreichen können. Masselose Strahlung, wie das Licht selbst oder andere elektromagnetische Wellen, breiten sich im Vakuum des Alls immer mit Lichtgeschwindigkeit aus. Sie gilt daher als Konstante, die von keiner anderen Bewegung überschritten werden kann. Ob Neutrinos eine Masse besitzen, ist noch unklar. Meist gelten sie als masselos. Sie dürften – wie jede andere Materie auch, die Lichtgeschwindigkeit nicht überschreiten. Bisher habe es zwar Experimente gegeben, mit denen Physiker versuchten, einen Bruch dieser Regel nachzuweisen, sagen die Forscher. Dies sei jedoch bisher nie gelungen.
Neutrinostrahl einmal durch die Alpen geschickt
Im Rahmen ihres Experiments hatten die Forscher einen Strahl von Neutrinos vom Teilchenbeschleuniger CERN nahe Genf bis nach Gran Sasso geschickt. Da die Neutrinos kaum Masse besitzen und mit normaler Materie kaum wechselwirken, durchdringen sie problemlos selbst Gestein. Die Physiker maßen mit einer speziellen Apparatur, wie schnell diese mehr als 15.000 Teilchen die 730 Kilometer lange Strecke zurücklegten. Dabei habe man festgestellt, dass die Geschwindigkeit der Neutrinos auf dieser Strecke um rund 20 Millionstel höher gelegen haben musste als die Lichtgeschwindigkeit, berichten die Wissenschaftler.
Keine Instrumentenfehler gefunden
„Dieses Ergebnis ist eine völlige Überraschung“, sagt Antonio Ereditato von der Universität Bern, Sprecher der Kollaboration, die das sogenannte OPERA-Experiment durchführte. „Nach Monaten der Analyse und Gegentests haben wir aber keinen Instrumentenfehler finden können, der dieses Ergebnis der Messungen erklären könnte.“ Sollte dieses Messergebnis stimmen, stünde es in krassem Widerspruch zum gängigen Weltbild der Physik. Denn nach der bis heute als gültig angesehenen Relativitätstheorie von Albert Einstein kann keine Strahlung oder Materie schneller sein als das Licht.
„Wenn diese Messung bestätigt würde, könnte dies unsere Sicht der Physik verändern“, sagt Sergio Bertolucci, Forschungsleiter des CERN. „Aber wir müssen erst sicher sein, dass es keine andere, einfacherer Erklärungen gibt.“ Da frühere Experimente bisher die Relativitätstheorie in diesem Punkt eher bestätigt hätten, sei es eher unwahrscheinlich, dass Einsteins Theorie tatsächlich falsch sei. Dennoch sei es nun wichtig, weitere, unabhängige Messungen durchzuführen.
Atomuhren sorgten für hochgenaue Messungen
Für das Experiment hatten sich Physiker mit Experten der Messtechnik zusammengetan, um eine Reihe von hochpräzisen Messungen durchzuführen. Ermittelt wurde dabei jeweils die Geschwindigkeit, mit der Neutrinos die Strecke zwischen ihrem Ursprung im Teilchenbeschleuniger am CERN und dem Detektor in Gran Sasso zurücklegen. Insgesamt habe man mehr als 15.000 Neutrino erfasst, sagen die Forscher. Die Strecke sei mit einer Genauigkeit von rund 20 Zentimetern auf 730 Kilometer vermessen.
Die Flugzeit der Neutrinos habe man mit einer Ungenauigkeit von weniger als zehn Nanosekunden bestimmt, indem man modernste GPS-Systeme und Atomuhren zur Messung einsetzte. „Wir haben eine Synchronisation zwischen dem CERN und Gran Sasso erreicht, die bis auf Nanosekunden genau ist“, sagt Dario Autiero, einer der am Projekt beteiligten Physiker. Damit habe man Werte gemessen, nach denen die Neutrinos 20 Millionstel schneller gewesen sein müssten als die Lichtgeschwindigkeit.
„Wenn ein Experiment ein scheinbar unglaubliches Ergebnis liefert und es gibt keinen Fehler in der Messung, der dafür verantwortlich sein könnte, dann muss man dies veröffentlichen, damit es von anderen überprüft werden kann“, sagt Bertolucci. Genau dies habe man nun getan. Weitere Experimente müssten nun zeigen, ob das Ergebnis bestehen bleibe oder doch auf einen Fehler zurückgehe.
(CERN, 26.09.2011 – NPO)