Die Neandertaler sind möglicherweise Jahrtausende früher ausgestorben als bisher angenommen. Darauf deutet die direkte Datierung von Kollagenproben aus den Knochen eines im Kaukasus gefundenen Neandertalerkindes hin. Die jetzt in der Onlineausgabe der „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) veröffentlichte Studie spricht damit auch gegen eine längere Koexistenz der Neandertaler mit dem modernen Menschen.
Der Neandertaler ist der Vetter des modernen Menschen. Einst in ganz Europa und Teilen Asiens und des Nahen Ostens verbreitet, starb der Homo neanderthalensis jedoch aus und überließ dem anatomisch moderneren Homo sapiens das Feld. Wann genau dies geschah und warum, das ist seit langem strittig. Unklar ist unter anderem, ob die Konkurrenz der beiden Menschenarten eine Rolle spielte. Und auch, ob sich Neandertaler und Homo sapiens überhaupt begegneten oder gar längere Zeit nebeneinander in den gleichen Gebieten lebten.
Neue Methode zur direkten Datierung von fossilem Kollagen
Bisher gab es Hinweise dafür, dass zumindest im nördlichen Kaukasus Neandertaler und moderner Mensch einige Zeit nebeneinander vorkamen. Doch genau dies widerlegt jetzt eine neue Studie eines britisch-russischen Forscherteams. Sie haben Neandertaler-Fossilien mit einer neuen Methode direkt datiert. Bisher beruhten viele Daten auf indirekter Datierung beispielsweise von Tierknochen, Artefakten oder anderen Fossilien in der Fundschicht.
Mit Hilfe einer neuen Technologie entnahmen die Forscher winzige Proben aus dem Fossil eines Neandertaler-Kindes, das in der Mezmaiskaya-Höhle im Nordkaukasus gefunden wurde. Die Proben wurden per Ultrafiltration gereinigt, das kohlenstoffhaltige Kollagen isoliert und mittels so genannter Accelerator Massenspektrometrie auf den C-14-Gehalt analysiert.
Fast 10.000 Jahre älter als zuvor angenommen
Das Ergebnis: Das Kind ist nicht, wie zuvor angenommen, rund 30.000 Jahre alt, sondern 39.700 Jahre. Dies wiederum bedeutet, dass der Homo neanderthalensis in diesem Gebiet früher verschwand als angenommen. Eine Überlappungszeit von Neandertaler und modernem Menschen war damit hier entweder gar nicht vorhanden oder aber maximal ein paar hundert Jahre lang.
„Zuvor haben Arbeitsgruppen jüngere Daten geliefert, von denen wir jetzt wissen, dass sie nicht robust sind, wahrscheinlich weil das Fossil durch modernere Partikel kontaminiert wurde“, erklärt Tom Higham, Forscher am Oxford Radiocarbon Accelerator Unit. Nach Ansicht der Wissenschaftler könnten auch zahlreiche andere Fossilien, Artefakte und Ablagerungen aus der mittleren und frühen Jungsteinzeit bisher systematisch zu jung datiert worden sein.
Keine Koexistenz?
„Es scheint jetzt sehr viel klarer, dass Neandertaler und anatomisch moderner Mensch im Kaukasus nicht koexistierten“, erklärt Ron Pinhasi vom University College Cork, Hauptautor der Studie. „Es ist möglich, dass dieses Szenario auch für die meisten Regionen Europas gilt. Viele der bisherigen Daten zur späten Besiedlung oder Fundstellen in Europa sind problematisch. Das liegt einfach daran, dass der Zusammenhang zwischen dem datierten Material und den Neandertalern nicht immer so eindeutig ist. Wie können nicht immer sicher sein, ob archäologische Steinwerkzeugformen wie das Mousterien, die im Falle Europas dem Neandertaler zugeordnet wurden, nicht in Wirklichkeit von modernen Menschen hergestellt wurden. Um diese Fragen zu lösen, müssen wir Neandertaler und anatomisch modernen Menschen direkt datieren.“
Die neuesten Daten sprechen für ein Aussterben des Neandertalers schon vor dem Auftauchen des modernen Menschen oder spätestens bei seiner Ankunft, wie Higham erklärt: „Dieser Datierungsbeweis wirft ein neues Licht auf die Aussterberaten der Neandertaler in dieser Schlüsselregion, die von vielen als entscheidend für die Ausbreitung der modernen Menschen in die russischen Ebenen angesehen wird. Das Aussterben der Neandertaler ist daher ein Indikator dafür, wann sich dieser Schritt wahrscheinlich ereignete.“ (PNAS Online Early Edition, 2011, doi: 10.1073/pnas.1018938108)
(University College Cork, 10.05.2011 – NPO)