Die im August entdeckten Kerben an 3,4 Millionen Jahre alten Tierknochen sind vielleicht doch keine Werkzeugspuren unseres Vorfahrens Australopithecus afarensis: Stattdessen entstanden sie möglicherweise erst nach Verwesung der Tiere durch Erosion im grobkörnigen Sediment. Das jedenfalls belegen jetzt Forscher in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS).
Im August 2010 sorgten Wissenschaftler des Dikika Research Projects (DRP) für eine Sensation, als sie in „Nature“ 3,4 Millionen Jahre alte Knochenfunde mit verräterischen Kratzspuren präsentierten. Nach Ansicht der Forscher um Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie handelte es sich dabei um Spuren von Werkzeuggebrauch und damit um einen Beleg, dass auch der Vormensch Australopithecus afarensis schon Tiere erlegte und Fleisch aß. Bisher galten Werkzeugfunde aus dem äthiopischen Gona und Bouri als älteste Belege für Werkzeugnutzung, sie stammen jedoch nicht von den Artgenossen der berühmten „Lucy“, sondern von einer nachfolgenden Vormenschenart.
Schlussfolgerung falsch?
Doch jetzt wird Widerspruch gegen die Interpretation der Kratzspuren laut. Ein internationales Forscherteam unter Leitung von Manuel Domínguez-Rodrigo von der Universität Madrid hat die Kratzer erneut untersucht und kommt zu einem völlig anderen Schluss: Die Kratzer in den beiden in Dikika gefundenen Knochen wurden ihrer Ansicht nach weit nach dem Tod der Tiere durch Steinchen im Sediment verursacht. Diese erzeugten die Kratzer, als Tiere über die nur flach im grobkörnigen Boden begrabenen Knochen hinwegliefen.
Vergleichs-Experimente mit modernen Knochen
Um nachvollziehen zu können, welche Spuren Werkzeuge oder aber Trampelspuren hinterlassen, stellten die Wissenschaftler sowohl das Trampeln von Tieren auf leicht begrabenen Knochen als auch das Ritzen mit einfachen Steinen im Experiment nach. Neben den von den Wissenschaftlern des Dikika-Projekts ausdrücklich als Werkzeugspuren bewerteten Kratzern entdeckten und analysierten Domínguez-Rodrigo und seine Kollegen auch zahlreiche weitere Kratzspuren auf den Knochen. Sie wurden in der Ursprungsveröffentlichung nicht erwähnt, gleichen aber den Reibungsspuren, die entstehen, wenn Knochen ohne Fleischumhüllung im Sediment lagern.
Querschnitt und Form spricht für „Trampel-Relikte“
Ein erstes Indiz gegen Werkzeugspuren sehen die Forscher in der Form der Kratzer: So hinterlassen Schrammen von Steinwerkzeugen typischerweise ein Kerbe mit einem V-förmigen Querschnitt. Die nähere Analyse der Dikika-Knochen zeigte jedoch vorwiegend eine andere Kerbenform: „Die meisten der Dikika-Markierungen erscheinen im Querschnitt mit einer Basis, die deutlich breiter ist als die Höhe der Seitenwände“, so Domínguez-Rodrigo und Co. Diese Verteilung passt eher zu einer Entstehung durch Erosion, weniger zu einer gezielten Bearbeitung mit Werkzeugen. Im Experiment ergaben 96 Prozent der Trampeltests eine breite Form, bei den Werkzeugtests dagegen nur vier Prozent. Der Rest waren klassische V-förmige Kerben.
Und noch eine Eigenschaft machte die Forscher stutzig: „Darüberhinaus verlaufen die meisten Kerben gekrümmt oder sinusförmig“, so berichten sie in ihrem Artikel. Auch dies könnte eher auf einen Ursprung durch Erosion im Sediment hindeuten. Im Experiment hinterließ das Trampeln in mehr als 70 Prozent der Fälle genau diese gekrümmten Kerben, das Bearbeiten mit Steinwerkzeugen dagegen nur in rund zehn Prozent der Fälle.
Kontext wirft auch Zweifel auf vermeintlich eindeutigere Kerben
„Zusammen liefern diese experimentellen Ergebnisse einen robusten Kontext um die Markierungen auf dem Knochen DK55-3 mit hoher Wahrscheinlichkeit als Trampelschaden und nicht als Steinwerkzeugkerben oder Hammerspuren zu bewerten, wie durch das DRP erfolgt“, erklären die Forscher. Ihrer Ansicht nach ändert auch die große Ähnlichkeit von zwei der Kratzern mit Werkzeugspuren nichts an diesem Fazit: „Die Markierungen A1 und A2 auf DIK55-2 sind morphologisch bezwingend in ihrer Ähnlichkeit mit verifizierten Schnittkerben durch Steinwerkzeuge im Experiment: Die Kerben zeigen tiefe, V-förmige Querschnitte und Mikrostrukturen. In einem weniger umstrittenen Kontext würden sie vermutlich als echte Schnittkerben akzeptiert werden können“, so Domínguez-Rodrigo und seine Kollegen.
Skepsis bleibt, weitere Beweise dringend nötig
Doch angesichts der Tatsache, dass ein kompletter Wandel unserer Vorstellungen über die Australopithecinen nur an diesen Kerben hängt, sehen die Forscher Grund für eine extrem genaue Überprüfung – und für Skepsis. Das Vorkommen so vieler eindeutig auf nachträgliche Erosion zurückzuführender Kerben auf den gleichen Knochen deutet ihrer Ansicht nach auch bei den scheinbar eindeutigen Kratzern auf eine zufällige Entstehung hin.
„Skeptizismus sollte das Leitprinzip in einem solchen Kontext sein und wir sind in der Tat skeptisch gegenüber dem behaupteten Schlachtungsursprung der Kerben“, so das Fazit der Wissenschaftler in ihrem Artikel. „Solange bis stärkere kausale Verbindungen zwischen den DK55 Knochenspuren und homininen Einwirkungen demonstriert werden, bleibt der früheste, verlässlichste Beweis für ein werkzeugunterstütztes Schlachten durch Homininen der aus den äthiopischen Fundstellen in Gona und Bouri von vor 2,6 bis 2,5 Millionen Jahren.“
(PNAS / AAAS, 16.11.2010 – NPO)