Viren können eine Zelle infizieren, wenn sie an der Zelloberfläche spezifische Bindungsstellen finden. Wie dieses Andocken auf atomarer Ebene funktioniert, hat nun ein internationales Forscherteam für das Polyomavirus JCV enthüllt. Dazu wurde die atomare Struktur dieses Virus erstmals entschlüsselt – und das Andocken und damit die Infektion gezielt unterbunden, berichtet die Fachzeitschrift „Cell Host & Microbe“.
„Wir wissen sehr wenig darüber, wie Viren an Zellen binden und was sie danach machen“, sagt der Biochemiker Professor Thilo Stehle von der Universität Tübingen. Im Prinzip ist zwar bekannt, dass die Struktur des Virus und die Eigenschaften der Zelloberfläche zusammenpassen müssen, damit das Virus überhaupt erst einmal an der Zelle andocken kann. Dafür wird gerne das Bild vom Schlüssel verwendet, der in ein Schloss passen muss.
In Wirklichkeit, so der Forscher weiter, genügt aber ein einzelner Schlüssel meist nicht. Auf der Virusoberfläche finden sich meist mehrere Stellen, die an Zucker- oder Proteinmoleküle an der Zelloberfläche, die so genannten Rezeptoren, binden können. Anhand dieser Rezeptoren erkennt das Virus seine Wirtszellen, dockt an diese an und beginnt damit die Infektion.
Andocken mit atomarer Genauigkeit beschrieben
Stehle und seine Kollegen haben nun an einem konkreten Beispiel den Mechanismus des Andockens mit atomarer Genauigkeit beschrieben. Sie entschlüsselten dazu die atomare Struktur des Hüllproteins des beim Menschen sehr verbreiteten JC-Virus, das zur Familie der Polyomaviren gehört, und beschrieben damit zum ersten Mal überhaupt die atomare Struktur eines den Menschen befallenden Polyomavirus.
Das JC-Virus ist ein weit verbreitetes Virus, mit dem schätzungsweise siebzig bis neunzig Prozent der Weltbevölkerung infiziert sind. Allerdings löst es bei den meisten keinerlei Symptome aus, da das Immunsystem die Viren unter Kontrolle hält. Dadurch bleibt die Infektion auf das Nierengewebe beschränkt, und richtet dort keinen Schaden an.
JCV kann Myelinschichten der Nerven zerstören
Wenn das Immunsystem seine Aufgaben jedoch nicht erfüllt, kann das JC-Virus lebensgefährlich werden. Dies ist manchmal bei Patienten mit der Immunschwächekrankheit AIDS der Fall, oder auch bei Menschen mit Autoimmunkrankheiten, deren Immunsystem mit Medikamenten unterdrückt werden muss. In solchen Fällen kann das Virus ins Gehirn wandern, wo es die Myelinschichten der Nerven zerstört, ohne die die Nervensignale nicht mehr übertragen werden können. Die Menschen erkranken an so genannter progressiver multifokaler Leukenzephalopathie, die bis heute nicht heilbar ist und zum Tode führt.
Das Virus, so das Ergebnis der neuen Studie, dockt auf einer Wirtszelle an einem bestimmten Zuckermolekül an, das als LSTc – Lactoseries tetrasaccharide c – bezeichnet wird. Im Labor konnten die Wissenschaftler die Bedeutung dieser Erkenntnis demonstrieren: Brachten sie JC-Viren mit LSTc in Kontakt, bevor die Viren Zellen infizieren konnten, dann waren diese Erreger nicht mehr infektiös, weil die Andockstellen bereits mit LSTc belegt waren.
Schnappschuss des Virus bei der Bindung aufgenommen
Um den Andock-Vorgang auf der molekularen Ebene verstehen zu können, machten es sich die Tübinger Forscher zur Aufgabe, einen Schnappschuss des JC-Virus bei der Bindung an LSTc aufzunehmen, und zwar mit atomarer Genauigkeit. Dazu ließen sie das Hüllprotein des JC-Virus, das so genannte VP1, kristallisieren und untersuchten es mittels Röntgenstrukturanalyse.
Diese aufwändige Methode lieferte ein sehr detailliertes Bild der Proteinstruktur. Als dann LSTc in die VP1-Kristalle eingebracht wurde, konnten die Wissenschaftler die Bindung zwischen LSTc und VP1 direkt beobachten. Dabei zeigte die Tübinger Gruppe, dass VP1 das L-förmige LSTc-Molekül an der Form erkennt.
Bald neue antivirale Wirkstoffe?
Insbesondere definierten die Forscher die Stelle auf VP1, die für das Andocken an LSTc verantwortlich ist. Als sie nämlich Mutationen an dieser Stelle einbrachten, verlor das JC-Virus seine Fähigkeit, Zellen zu infizieren und sich zu vermehren. Damit haben die Biochemiker einen Angriffspunkt auf dem JC-Virus aufgezeigt, an dem man verhindern kann, dass das Virus an Zellen andockt, was entscheidend dafür ist, dass das Virus eine Zelle infizieren und sich weiter verbreiten kann.
„Unsere Ergebnisse bilden eine leistungsfähige Grundlage für die Entwicklung neuer antiviraler Wirkstoffe“, so die Forscher, „denn sie machen es möglich, die Virusinfektion schon beim allerersten Schritt, bei der Erkennung der Wirtszelle, zu unterbinden.“
(idw – Universität Tübingen, 22.10.2010 – DLO)