Für Beobachter ist die geordnete Bewegung von Tausenden von Fischen, Vögeln oder Insekten faszinierend. Die Entstehung und vielfältigen Bewegungsmuster derartiger Schwärme sind aber noch rätselhaft und werfen grundlegende Fragen zum Verständnis komplexer Systeme auf. Ein Münchener Physiker-Team hat nun ein biophysikalisches Modellsystem entwickelt, das die Untersuchung dieser Phänomene und ihrer Gesetzmäßigkeiten ermöglicht. Über ihre Ergebnisse berichten die Forscher in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Nature“.
„Alles bewegt sich fort, und nichts bleibt“ ist ein Satz, der auf den griechischen Philosophen Heraklit zurückgeführt wird. Das einzelne Individuum muss sich als Teil eines großen Ganzen, etwa eines Schwarms oder einer Menschenmenge, zwangsläufig eigenen Gesetzmäßigkeiten unterordnen: Vogelschwärme bewegen sich auch ohne Dirigent wie choreografiert durch die Luft, und Fischschwärme ändern blitzartig ihre Richtung, wenn ein Hai auftaucht. Doch die Wissenschaft rätselt noch: Gehorchen all diese Systeme denselben Gesetzen? Entsteht komplexes Gruppenverhalten aus individuellen Interaktionen von selbst und zwangsläufig?
Biophysikalisches Modellsystem entwickelt
Ein Forscherteam um Professor Andreas Bausch von der Technischen Universität München (TUM) und Professor Erwin Frey von der LMU München ist den Antworten auf der Spur. Die Wissenschaftler haben nun ein biophysikalisches Modellsystem entwickelt, das es erlaubt, gezielt Experimente unter kontrollierten Bedingungen und in hoher Präzision durchzuführen.
Volker Schaller vom TUM-Lehrstuhl für Biophysik, Erstautor der Studie, verankerte dazu auf einer Oberfläche biologische Motorproteine, die lose darüberliegende Fasern des Muskelproteins Aktin in beliebige Richtungen transportieren können.
Treibstoff für die Motorproteine
Die Fasern haben einen Durchmesser von etwa sieben Nanometern, also sieben Millionstel Metern, und eine Länge von etwa zehn Mikrometern, also zehn Tausendstel Millimetern. Die Bewegung der Fasern wurde mit hochauflösender Mikroskopie sichtbar gemacht.
Im Experiment begannen die Aktin-Fasern sich zu bewegen, sobald ATP – der Treibstoff für Motorproteine – zugegeben wurde. Bei niedrigen Konzentrationen der Aktin-Fasern ist die Bewegung noch völlig chaotisch. Erst ab einer Dichte von mehr als fünf Aktin-Fasern pro Quadratmikrometer, begannen sich die Fasern kollektiv in größeren Verbänden zu bewegen – in verblüffender Übereinstimmung zu Vogel- oder Fischschwärmen.
Wellen, Spiralen oder geordnete Cluster
„Wir können in diesem System alle relevanten Parameter einstellen und beobachten“, so Schaller. „Damit lassen sich auch die Aussagen verschiedener Theorien zur Selbstorganisation experimentell überprüfen – und zwar auf einer winzigen Längenskala mit ‚Nanomaschinen’.“ Wie aus dem Nichts bildeten sich den Wissenschaftlern zufolge im Versuch Strukturen, etwa Wellen, Spiralen oder geordnete Cluster. Manche dieser Strukturen erreichten eine Größe von fast einem Millimeter und blieben bis zu mehrere Minuten stabil, bevor sie sich wieder auflösten.
Ausgehend von diesen Beobachtungen entwickelte Frey zusammen mit seinem Doktoranden Christoph Weber theoretische Modelle, um die experimentellen Ergebnisse zu beschreiben. Mit Hilfe dieser Kombination aus erweiterbaren theoretischen Modellen und einer experimentellen Plattform wollen die Physiker nun schwierigere Probleme angehen und deren physikalische Gesetzmäßigkeiten aufdecken.
Phänomene der Selbstorganisation überall zu finden
„Phänomene der Selbstorganisation begleiten uns auf allen Ebenen unseres Lebens“, sagt Bausch. „Das fängt bei Verkehrsstaus und der Bewegung von Menschenmassen sowie Schwärmen von Tieren an und reicht bis zur Organisation biologischer Prozesse. Wichtige Beispiele sind hier der Aufbau des zellulären Zytoskeletts oder der Proteintransport in der Zelle durch Motorproteine.“
Die zugrundeliegenden Prinzipien – ob nun in ökonomischen, biologischen oder physikalischen Systemen – gehören aber noch zu den großen offenen Fragen der Theoretischen Physik. „Auch für unser Naturverständnis gibt es hier noch viele fundamentale Gesetzmäßigkeiten zu entdecken“, betont Frey. „Prognosen sollten aber nicht vorschnell auf die Dynamik von Menschenmassen übertragen werden – deren Komplexität lässt sich bislang kaum in theoretischen Modellen erfassen.“
(idw – Technische Universität München, 02.09.2010 – DLO)