Wir erkennen unsere Eigenbewegung normalerweise daran, dass sich die Strukturen in unserem Sichtfeld an uns vorbeibewegen. Wie Nervenzellen aus diesen „optischen Fluss“ die Bewegung berechnen, haben Wissenschaftler jetzt aufgeklärt. Ihre in „Neuron“ erschienenen Studie enthüllt, dass entgegen bisherigen Annahmen auch Vorgänge im Inneren der Nervenzellen dafür entscheidend wichtig sind.
Menschen und Fliegen haben eine große Gemeinsamkeit – sie verlassen sich bei der Orientierung im Raum stark auf ihre Augen. Das funktioniert äußerst zuverlässig, obwohl sich die visuellen Eindrücke ständig verändern. Gehe ich zum Beispiel an einer weißen Wand vorbei, so sehe ich an den kleinen
Unebenheiten, die entgegen meiner Laufrichtung an meinen Augen vorbeiziehen, dass ich vorwärts gehe. Laufe ich nun an einer bunt beklebten Plakatwand vorbei, so zieht ein Vielfaches an Farb- und Strukturveränderungen an meinen Augen vorbei. Obwohl die visuellen Informationen sehr unterschiedlich sind, nehme ich in beiden Fällen zuverlässig wahr, dass ich mich mit einer bestimmten Geschwindigkeit vorwärts bewege. So entpuppt sich bei genauerer Betrachtung etwas Alltägliches als beachtliche Leistung unseres Gehirns.
Fliegen als Modell
Um zu verstehen, wie Nervenzellen optische Informationen verarbeiten, untersuchen Neurobiologen normalerweise die Gehirne von Fliegen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Fliegen sind Meister in der Verarbeitung optischer Bewegungen und ihre Gehirne sind relativ überschaubar. So kann die Funktion jeder einzelnen Nervenzelle in einem Netzwerk untersucht werden. In Laborversuchen zeigen die Wissenschaftler den Fliegen bewegte Streifenmuster und messen die Reaktionen einzelner Nervenzellen. Auf diese Weise sind Modelle entstanden, die sehr gut beschreiben, auf welchen Reiz eine Nervenzelle reagiert und was sie an nachfolgende Zellen weitergibt. Diese Modelle versagten jedoch, wenn die vorgespielten Muster stark in ihrer Komplexität variierten.
Nervenzellen bisher als „Black Box“
„Die Modelle berücksichtigten nur die Eingangs-Ausgangs-Beziehung der Nervenzellen; wie die Signale
innerhalb der Zelle dabei verarbeitet werden, das spielte keine Rolle“, erklärt Alexander Borst, der mit
seiner Abteilung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried die Vorgänge im Fliegenhirn
untersucht. Die Zelle selbst wurde dabei quasi als „Black Box“ behandelt. Dass auch die Vorgänge im Inneren der Nervenzelle wichtig sind, hat jetzt sein Kollege Franz Weber gemeinsam mit Christian Machens von der Ecole Normale Superieure in Paris gezeigt. Sie entwickelten ein Modell, das sowohl die Funktion (Input/Output) als auch die biophysikalischen Eigenschaften der Zelle berücksichtigt.
Gleiche Reaktion trotz unterschiedlicher Punktmuster
In seinen Versuchen zeigte Weber Fliegen bewegte Punktmuster mit verschiedener Punktdichte und maß die Aktivität ihrer Nervenzellen. Es zeigte sich, dass die Nervenzellen bei hoher und niedriger Punktdichte grundsätzlich gleich reagierten. Das ist erstaunlich, denn bei wenigen Punkten erhält eine Nervenzelle deutlich weniger visuelle Bewegungsinformation als bei hoher Punktdichte. Übertragen auf den Menschen entspricht dies dem Vorbeigehen an der weißen Wand und an einer bunten Plakatwand.
Offensichtlich gleichen die Zellen Unterschiede in den Eingangssignalen über einen internen Verstärker aus. Diese Signalverstärkung bezogen die Neurobiologen nun in ihre Berechnungen ein und entwickelten daraus ein neues Model. Dieses beschreibt nun sehr zuverlässig das Verhalten der Nervenzellen des Netzwerks, egal wie komplex die Welt um die Fliege – oder um uns – herum ist.
(Max-Planck-Institut für Neurobiologie, 26.08.2010 – NPO)