Schon in der Kupferzeit könnten unsere Vorfahren ins „Kino“ gegangen sein – und das in 3D und mit Surround-Sound. Statt in einem mit Technik ausgerüsteten Kinosaal fand ihr „Kino“ jedoch an Stätten mit Felsgravuren und guter Akustik statt, dort, wo sich akustische und visuelle Eindrücke zu einem „Kino im Kopf“ verbinden konnten. Diese These untersucht jetzt ein internationales Projekt mit modernsten digitalen Methoden. Die Forscher testen dabei neben der Akustik der Orte unter anderem, inwieweit sich Felsbild-Serien zu animierten Folgen verbinden lassen.
Das Kino wurde Ende des 19. Jahrhunderts erfunden – richtig oder falsch? Richtig, wenn man an moderne Formen des Kinos denkt. Doch die ursprüngliche Idee des Kinoerlebnisses, nämlich eine Geschichte visuell und auditiv zu vermitteln, scheint viel älter zu sein. Dessen Erfindung dürfte bis in die Kupferzeit zurückreichen. Darauf weisen Fundorte prähistorischer Felsgravuren hin, die Menschen aus der Ära von Ötzi bis Kaiser Augustus ein audiovisuelles Erlebnis boten. Diese liegen über ganz Europa verstreut. In Norditalien, wo sich die höchste Konzentration an Felsbildern und Fundorten befindet, werden diese nun im Rahmen des „Prehistoric Picture Project“ der Fachhochschule St. Pölten, der Universität Cambridge und der Bauhaus Universität Weimar untersucht. Dabei kommen für die Archäologie außergewöhnliche Instrumente und Methoden zum Einsatz – neueste digitale Medientechnologien erwecken so das prähistorische Kino zu neuem Leben.
Felsgravuren als Urzeitkino?
Im Zentrum des Projekts stehen prähistorische Felsgravuren, die in ganz Europa oftmals an verborgenen und schwer zugänglichen Plätzen liegen. Warum wurden gerade diese Plätze für die Felsbilder gewählt? Das war für die Archäologen bisher ein Rätsel. Umso spektakulärer ist folgende These von Frederick Baker, Mitarbeiter des Museum of Archaeology & Anthropology der University of Cambridge, der gemeinsam mit Christopher Chippindale von der FH St. Pölten das Projekt leitet: Die
Plätze der Felsbilder sind deshalb so ausgewählt worden, um den Betrachtern ein umfassendes visuelles und akustisches Erlebnis zu bieten – also quasi einen prähistorischen Kinofilm. Dieser These gehen die Forscher nun mit für die Archäologie außergewöhnlichen Methoden auf den Grund: modernsten digitalen Medientechnologien aus dem Bereich Film und Sound.
Kinosaal der Kupferzeit
Wie man sich das prähistorische Kinoerlebnis vorstellen kann, erläutert Baker so: „Die Felszeichnungen, die die Kupferzeitmenschen in die Felsen ritzten, sind unserer Meinung nach keineswegs bloße Bilder, sondern aktiver Teil einer audiovisuellen Performance. Der Blick der Betrachter fiel zunächst auf ein Felsbild und wurde von dort auf weitere Orte mit Felsbildern gelenkt. Auf das bewegte Bild musste man zwar noch verzichten, aber dennoch entstanden für das Auge Bildabfolgen wie in einer Animation. Zusätzlich sah man die Bilder in einem bewusst gewählten Ambiente, das oftmals einen spektakulären Blick auf die umgebende Tallandschaft bot. Neben dem Auge kam auch das Ohr nicht zu kurz – denn die Felszeichnungen sind gehäuft an Stellen mit besonderen Echos zu finden. Damit handelt es sich bei den Felsbildern nicht um statische Momentaufnahmen, sondern um Bilder, die Geschichten im Kopf der Betrachter entstehen ließen – ganz wie im Kino“.
Tod und Frauen kommen nicht vor
Die „Kinoszenen“ zeigen unter anderem Kämpfe, die Jagd, Häuser oder tanzende Menschen. Erstaunlich ist dabei, dass der Tod nie eine Rolle spielt und auch Frauen kaum vorkommen. Produziert wurden die Szenen – die den Startschuss für den Beginn der erzählenden Malerei darstellen – in der Zeit zwischen 4.000 bis 1.000 v. Chr. Damit reichen die Felszeichnungen, die in ganz Europa verstreut liegen von der Jungsteinzeit bis zu den Römern. Die höchste Konzentration befindet sich mit 100.000 einzelnen Bildern in Valcamonica rund um die Gemeinden Paspardo und Cappo di Ponte in der Lombardei, in Norditalien. Hier werden aktuell auch die Untersuchungen im Rahmen des Projektes durchgeführt.
Felsbilder animiert
Um die These zu untermauern, dass bereits Ötzi „ins Kino“ ging, setzt das Forschungsprojekt neueste digitale Medientechnologien ein. Michael Kren vom Institut für Medienproduktion erklärt: „Mittels modernster Computertechnologie stellen wir die Fotos der Felsenbilder in Sequenzen dar und reanimieren diese wie bei einem Comic. Zudem analysieren wir die Bilder unter ganz unterschiedlichen Aspekten – denn wir wollen wissen, mit welcher Absicht unsere Vorfahren diese in den Felsen geritzt haben.“
Akustik im Test
Genauso wie den Zeichnungen, hauchen die Forscher aber auch dem damaligen akustischen Surrounding neues Leben ein – und betreten damit wissenschaftliches Neuland. Denn im Projekt kommt die Archeo-Akustik – ein junges Forschungsgebiet, das sich mit akustischen Besonderheiten von Fundstätten beschäftigt – zum Einsatz: „Wir checken quasi die Tonanlage des vermuteten Kinosaals und schauen, ob Orte mit Felszeichnungen ein besonderes akustisches Potential bieten“, erklärt Feldforscherin Astrid Drechsler. „Dieses können wir nur mit unserem bloßen Ohr oftmals nicht erkennen. Z. B. geht ein vorhandenes Echo aufgrund einer in der Nähe befindlichen Autobahn vollkommen unter und kann erst durch komplexe Geräuschfilter wiederentdeckt werden.“
(PR&D, 30.06.2010 – NPO)