Neurobiologie

Lernen: Situation entscheidet über Gehirnareal

Unbewusstes und bewusstes Lernen kann an gleichem Ort stattfinden

Neues Gedächtnismodell: Es gibt drei Grundformen des Lernens (Ellipsen oben), welche entsprechende Gedächtnissysteme (anatomische Bilder) abrufen. © NRN/K. Henke

Unbewusstes und bewusstes Lernen beansprucht nicht – wie bisher angenommen – zwangsläufig unterschiedliche Gehirnareale. Ein Forscherteam hat nachgewiesen, dass vielmehr die Anforderungen der Lernsituation darüber entscheiden, welche Gehirnareale in den Lernprozess involviert sind. Die neuen Erkenntnisse liefern den Grundstock für eine neue Gedächtnistheorie.

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Der Mensch besitzt verschiedene Formen des Langzeitgedächtnisses, die von unterschiedlichen Gehirnarealen hervorgebracht werden. Bislang wurden diese Gedächtnisformen nach der Bewusstheit des Lernens und Erinnerns unterschieden. Lernen bezeichnet das Abspeichern von neuer Information im Gedächtnis, Erinnern deren Abruf aus dem Gedächtnis. Letzteres steht dabei für den Speicher, ähnlich einer Festplatte im PC. Um Näheres über diese Prozesse herauszufinden, führten Wissenschaftler um Professor Katharina Henke von der Abteilung Allgemeine Psychologie und Neuropsychologie der Universität Bern in Zusammenarbeit mit Partnern der Universität Zürich Experimente an neurologisch gesunden und kranken Menschen durch.

Gleiches Hirnareal für unterschiedliche Lernformen

In der Kombination von Verhaltensmessungen und funktioneller Bildgebung des Gehirns zeigte sich, dass unbewusstes und bewusstes Lernen und Erinnern unter Umständen die gleichen Gehirnareale beanspruchen kann Voraussetzung dafür ist, dass die Anforderungen für beide Lernformen die gleichen sind. So aktiviert zum Beispiel das Lernen von neuen Verknüpfungen zwischen Personen und ihren Berufen den Hippokampus – eine unter der Schläfe liegende Gehirnstruktur – unabhängig davon, ob man die Verknüpfungen bewusst oder unbewusst lernt. Bisherige Gedächtnistheorien schreiben dem Hippokampus ausschließlich bei bewusstem Lernen und Erinnern eine Rolle zu.

Neue Gedächtnistheorie

Aufgrund dieser Erkenntnisse formulierte Katharina Henke eine neue Gedächtnistheorie, die jetzt in der Zeitschrift „Nature Reviews Neuroscience“ erschienen ist. Die neue Gedächtnistheorie unterscheidet – wie ältere Gedächtnistheorien auch – zwischen verschiedenen Gedächtnissystemen. Das Kriterium zur Unterscheidung ist aber nicht das Bewusstsein, sondern die Anforderungen der Lernsituation, so zum Beispiel die Anzahl der Lerndurchgänge. Jede Lernsituation erfordert eine bestimmte Verarbeitungsweise und ein entsprechend spezialisiertes Gedächtnissystem.

Drei Formen des Lernens

Der neue Ansatz unterscheidet drei grundsätzliche Verarbeitungsweisen: rasches Lernen von flexiblen Verknüpfungen, langsames Lernen von rigiden Verknüpfungen und rasches Lernen von Einzelinformationen. Das tägliche Leben fordert von uns, dass wir von Moment zu Moment – beispielsweise wenn wir Zeuge eines Unfalls werden – komplexe Informationen und ihre Verknüpfungen abspeichern. Dafür brauchen wir die Fähigkeit zu raschem Lernen von flexiblen Verknüpfungen. Nur eine Gehirnstruktur entspricht dieser Leistungsanforderung: der Hippokampus zusammen mit dem Neokortex (Hirnrinde).

Wenn wir hingegen die gleiche Lernsituation wieder und wieder durchlaufen, zum Beispiel eine Textpassage wiederholt lesen, findet ein langsames Lernen von rigiden Verknüpfungen statt. Diese Art von Lernen läuft unter anderem über den Neokortex und das Kleinhirn. Werden keine Verknüpfungen, sondern nur Einzelaspekte abgespeichert – beispielsweise das Kleid einer Frau in einer einmal erlebten Szene –, erfordert dies ein rasches Lernen einer Einzelinformation. Diese dritte Verarbeitungsweise beansprucht den so genannten parahippokampalen Gyrus und den Neokortex.

„Jede der drei Arten von Lernen kann mit oder ohne Bewusstsein ablaufen. Wenn wir etwas bewusst lernen, entscheidet das vorhandene Bewusstsein nicht darüber, in welchem Gedächtnissystem die Erinnerung abgelegt wird; das entscheidet die Art und Weise, wie wir lernen“, erklärt Henke.

(Universität Bern, 21.06.2010 – NPO)

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