Die Fähigkeit Gesichter zu erkennen ist vererbt – und dies unabhängig von der allgemeinen Intelligenz einer Person. Das hat jetzt ein amerikanisch-chinesisches Forscherteam herausgefunden. Diese jetzt in der Fachzeitschrift „Current Biology“ veröffentlichte Erkenntnis widerspricht der gängigen Theorie, nach der kognitive Fähigkeiten als Gesamtheit weitergegeben werden. Stattdessen wird die These von der modularen Bauweise unserer Kognition gestärkt.
Gesichter zu erkennen ist für uns Menschen eine wichtige soziale Fähigkeit. Kaum etwas ist peinlicher, als wenn eine Person vor einem steht und man nicht mehr weiß, wen man da vor sich hat oder ob man nicht doch Opfer einer Verwechslung geworden ist. Wie gut jemand Gesichter erkennt, ist individuell verschieden – aber ist es vielleicht auch geerbt? Genau diese Frage haben Jia Liu, Professor für kognitive Neurowissenschaften an der Beijing Normal University in China, und seine Kollegen jetzt in mehreren Experimenten geklärt. Zudem untersuchten sie, ob diese Vererbung unabhängig oder zusammen mit dem IQ erfolgt.
In einem ersten Experiment zeigten die Wissenschaftler ihren Probanden am Computer schwarz-weiß-Bilder von 20 verschiedenen Gesichtern, jeweils eine Sekunde lang pro Bild. In einem zweiten Durchgang mischten die Wissenschaftler zehn der ursprünglichen Portraits unter 20 neue und fragten die Teilnehmer, welche der Bilder sie bereits gesehen hatten.
Mehr Übereinstimmungen bei eineiigen Zwillingen
Die Forscher führten die Studie an 102 Paaren eineiiger Zwillinge und 71 Paaren von zweieiigen Zwillingen zwischen sieben und 19 Jahren durch. Da eineiige Geschwister 100 Prozent ihrer Gene gemeinsam haben, sollten sie Merkmale und Eigenschaften mit stark erblicher Komponente auch häufiger teilen als zweieiige, die nur in der Hälfte ihrer Gene übereinstimmen. Das Ergebnis: die Erfolgsquoten der eineiigen Zwillinge stimmten jeweils besser überein als die der zweieiigen.
In zusätzlichen Tests überprüften die Forscher dann, ob diese Ergebnisse tatsächlich nur für die Gesichtererkennung gelten und nicht etwa auf Unterschiede in der Sehschärfe, der generellen Fähigkeit zur Erkennung von Objekten, dem Gedächtnis oder anderen übergeordneten kognitiven Prozessen beruhten. Doch dem war nicht so. Die Unterschiede zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen traten so nur in der Gesichtererkennung auf. Aus den Werten schließen Liu und seine Kollegen, dass rund 35 Prozent der individuellen Unterschiede in der Gesichtererkennung auf genetische Faktoren zurück gehen und damit vererbbar sind.
Sind kognitive Fähigkeiten generalistisch oder modular?
Und noch einen Versuch führten die Wissenschaftler durch: In diesem wollten sie feststellen, ob Studenten mit guter Gesichtererkennung auch einen hohen Intelligenzquotienten (IQ) besaßen und umgekehrt. Hintergrund dieser Frage ist eine seit langem existierende Debatte darüber, wie kognitive Fähigkeiten organisiert sind. Die vorherrschende Theorie geht davon aus, dass gute Fähigkeiten in einem Bereich, beispielsweise in Mathematik, einhergehen mit guten Fähigkeiten in anderen Gebieten wie beispielsweise der räumlichen Vorstellung oder dem Gedächtnis. Diese Vorstellung steht auch hinter den gängigen IQ-Tests.
Demgegenüber vertritt die Modulare-Theorie die Ansicht, dass kognitive Fähigkeiten unabhängig voneinander entwickelt und weitergegeben werden. Argument dafür ist die Tatsache, dass einige hochspezialisierte Fähigkeiten von speziellen, klar definierten Hirnbereichen kontrolliert werden – und dass nicht jedes Musikgenie auch ein begnadeter Dichter oder Gedächtniskünstler sein muss.
Keine Korrelation zum IQ
Tatsächlich ergab der Versuch an 321 Studenten keinerlei Korrelation zwischen dem IQ der Probanden und ihrer Fähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen. Nach Ansicht von Liu und seinen Kollegen deutet dies darauf hin, dass die Gene für die Gesichtererkennung sich von denen der allgemeinen Intelligenz unterscheiden. „Unsere Studie liefert den ersten Beleg, der die Hypothese der Modularität aus einer genetischen Perspektive unterstützt“, erklärt Liu. „Einige kognitive Fähigkeiten wie die Gesichtererkennung werden offenbar von speziellen und nicht von generalisierten Genen bestimmt.“
Die neuen Erkenntnisse werfen auch Licht auf die Ursachen einiger kognitiver Entwicklungsstörungen wie Autismus oder Dyslexie. „Die Vererbbarkeit dieser kognitiv spezifischen Erkrankungen deutet darauf hin, dass einige Gene ganz spezifische kognitive Effekte besitzen, aber es ist noch ein großes Geheimnis, wie die Gene diese Effekte erzeugen“, erklärt Koautorin Nancy Kanwisher vom McGovern Institute for Brain Research am Massachusetts Institute of Technology (MIT). „Unsere Ergebnisse könnten dazu beitragen zu erklären, warum wir bei bestimmten vererbbaren Erkrankungen solche großen Unterschiede der kognitiven Fähigkeiten in einer Person finden“, so Kanwisher. In der Leseschwäche Dyslexie beispielsweise besitzen die Betroffenen normale IQs, können aber nur schlecht lesen. Im so genannten Williams-Syndrom dagegen leiden die Patienten unter schweren allgemeinen Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit und einem niedrigen IQ, besitzen aber ausgezeichnete sprachliche Fähigkeiten.
Die Wissenschaftler wollen nun als nächstes untersuchen, ob auch andere kognitive Fähigkeiten wie Sprachverarbeitung, Zahlenverständnis oder die räumliche Orientierung unabhängig von IQ und anderen Fähigkeiten vererbbar sind.
(Massachusetts Institute of Technology, 21.01.2010 – NPO)