Tübinger Forscher haben die bisher älteste Menschenfigur der Welt gefunden. Die bei Ausgrabungen in der Hohle Fels-Höhle auf der Schwäbischen Alb entdeckte Venus aus Mammutelfenbein wurde vor mindestens 35.000 Jahren hergestellt und ist damit eines der ältesten Beispiele für figürliche Kunst weltweit. Dieser Fund verändert die Sicht auf den Kontext und die Bedeutung der frühesten altsteinzeitlichen Kunst auf radikale Weise, so die Forscher im Wissenschaftsmagazin „Nature“.
Zwischen dem 5. und 15. September 2008 bargen Archäologen um den Tübinger Urgeschichtler Professor Nicholas Conard im Hohle Fels bei Schelklingen sechs bearbeitete Elfenbeinstücke, aus denen sich die Venus zusammensetzt. Die Bedeutung der Entdeckung wurde dann am 9. September endgültig deutlich, als ein Ausgräber das Hauptstück der Skulptur, den größten Teil des Rumpfes, aufspürte.
Die Figur lag nach Angaben der Forscher etwa drei Meter unter der heutigen Höhlenoberfläche und circa 20 Meter vom Höhleneingang entfernt. Alle Bruchstücke stammten aus nur einem Viertelquadratmeter und streuten vertikal über acht Zentimeter.
Venus gut erhalten
Die „Venus vom Hohle Fels“ ist nahezu vollständig, nur der linke Arm mit der Schulter fehlt. Die Höhe beträgt etwa sechs Zentimeter. Die ausgezeichnete Erhaltung und die enge stratigraphische Zusammengehörigkeit der Bruchstücke zeigen, dass die Venus nach ihrer Ablagerung nur geringen Verlagerungen ausgesetzt war, so die Wissenschaftler.
Die Figur lag dabei ganz unten in einem feinen rot-braunen, tonhaltigen Sediment, das etwa einen Meter mächtig ist und aus dem so genannten Aurignacien stammt, der ältesten mit dem modernen Menschen in Verbindung gebrachten Kultur in Europa. Wie die Urgeschichtler weiter berichten, befanden sich die Bruchstücke in der Nähe einiger Kalksteinblöcke von mehreren Dezimetern Größe.
Die Funddichte im Bereich der Venus war relativ hoch und umfasste Abfälle der Steinartefaktproduktion, bearbeitete Knochen und bearbeitetes Elfenbein, Knochen von Pferd, Ren, Höhlenbär, Mammut, Steinbock und schließlich verbrannte Knochen.
Erster Beleg für figürliche Kunst
Radiokohlenstoffdaten aus dem Fundhorizont umspannen einen Zeitraum zwischen 31.000 und 40.000 Jahren vor heute. Die Tatsache, dass oberhalb der Venus fünf Aurignacienhorizonte mit einer Gesamtmächtigkeit von 70 bis 120 Zentimeter folgen, die ein Dutzend stratigraphisch intakter anthropogener Befunde enthalten, deutet aber nach Angaben der Forscher darauf hin, dass die Figur tatsächlich ein Alter hat, das mit dem Beginn des Aurignacien vor etwa 40.000 Jahren anzusetzen ist.
Obwohl sich zahlreiche Abfälle der Elfenbeinbearbeitung in den untersten Aurignacienschichten des Hohle Fels und der benachbarten Geißenklösterle-Höhle fanden, ist die neue Skulptur der erste Beleg für figürliche Kunst aus dem frühesten Aurignacien in Schwaben. Sie widerlegt die Annahme, figürliche Darstellungen und andere Artefakte mit symbolischem Inhalt träten erst in den späteren Phasen des Schwäbischen Aurignacien auf.
Kopflose Figur
Die Venus vom Hohle Fels zeigt sowohl eine Reihe völlig einzigartiger Merkmale als auch eine Anzahl von Kennzeichen, die bei späteren Frauenfiguren ebenfalls auftreten. Die Statuette hat keinen Kopf. Stattdessen ist über ihren breiten Schultern ein nicht zentrierter, aber sorgfältig geschnitzter Ring angebracht. Obwohl er verwittert ist, trägt er noch Spuren von Politur, die darauf hindeuten, dass die Figur als Anhänger getragen worden ist, so die Forscher. Unter den Schultern, die ungefähr gleich breit wie tief sind, ragen große Brüste hervor. Die Figur hat kurze Arme mit sorgfältig geschnitzten Händen und klar erkennbaren Fingern, die auf dem oberen Teil des Bauches unterhalb der Brüste ruhen.
Die Venus ist von kurzer und gebeugter Statur mit einer Taille, die leicht schmaler ist als die breiten Schultern und die breiten Hüften. Mehrere tief eingeschnittene waagerechte Linien bedecken den Unterleib vom Bereich unterhalb der Brüste bis zum Schamdreieck. Verschiedene dieser horizontalen Linien setzen sich bis auf die Rückseite der Figur fort und deuten auf Kleidung oder eine Art Schurz hin. Mikroskopische Aufnahmen zeigen, dass diese Einschnitte durch wiederholtes Schneiden mit scharfen Steinartefakten entlang der gleichen Linien entstanden.
Überdimensionierte Brüste
Die Beine der Venus sind kurz und spitz. Das Gesäß und die Genitalien sind detaillierter wiedergegeben. Der Spalt zwischen den beiden Gesäßhälften ist tief und setzt sich ohne Unterbrechung bis zum Vorderteil der Figur fort, wo die Vulva zwischen den geöffneten Beinen sichtbar ist. Es kann nach Angaben der Wissenschaftler kein Zweifel darüber bestehen, dass die Wiedergabe überdimensionierter Brüste, eines akzentuierten Gesäßes sowie der deutlich hervorgehobenen Genitalien auf einer bewussten Übertreibung der Geschlechtsmerkmale der Figur beruht.
Viele der Charakteristika, einschließlich der Hervorhebung der Geschlechtsmerkmale und der geringen Betonung von Kopf- und Gesichtspartie, Armen und Beinen, ähneln Merkmalen der zahlreichen aus dem so genannten Gravettien in Europa bekannten Venusfiguren, die üblicherweise in die Zeit zwischen 22.000 und 27.000 Jahren vor heute datieren.
Die sorgfältige Darstellung der Hände erinnert die Wissenschaftler an einige gravettienzeitliche Venusfiguren, darunter die archetypische „Venus von Willendorf“, die vor hundert Jahren im Sommer 1908 entdeckt wurde. Trotz des deutlich höheren Alters der Venus vom Hohle Fels erscheinen viele ihrer Merkmale in verschiedener Form im gesamten weiteren Verlauf der reichen Tradition paläolithischer Frauendarstellungen.
Neue Sicht auf die Anfänge paläolithischer Kunst
Die neue Statuette vom Hohle Fels verändert nach Angaben der Forscher die Sicht auf die Anfänge paläolithischer Kunst auf radikale Weise. Vor ihrer Entdeckung überwogen unter den mehr als zwei Dutzend Figuren, die aus dem schwäbischen Aurignacien stammen, Darstellungen von Tieren und Mensch- Tier-Mischwesen. Abbildungen von Frauen waren fast unbekannt. Mit der Neuentdeckung kann die Feststellung, dreidimensionale Frauendarstellungen seien erst im Gravettien entwickelt worden, widerlegt werden.
Ebenso müssen Interpretationen neu überdacht werden, die von einer Dominanz starker, aggressiver Tiere oder Schamanendarstellungen in der Aurignacienkunst in Schwaben oder sogar in Europa überhaupt ausgehen.
Obwohl die Debatte über die Bedeutung der paläolithischen Venusfiguren auf eine lange Tradition blicken kann, weisen deren deutlichen Geschlechtsmerkmale auf einen direkten Zusammenhang mit dem Ausdruck von Fruchtbarkeit hin. Die „Venus vom Hohle Fels“ bietet, so die Wissenschaftler, eine völlig neue Sicht auf die Kunst des frühen Jungpaläolithikums und untermauert Argumente, die für die Schwäbische Alb als ein bedeutendes Innovationszentrum bei der Herausbildung von Kennzeichen kultureller Modernität am Beginn des Aurignacien sprechen.
Angefertigt von frühen modernen Menschen?
Obwohl viele Forscher wie auch Conard davon ausgehen, dass die Aurignacien-kunstwerke von frühen modernen Menschen kurz nach ihrer Einwanderung nach Europa angefertigt wurden, kann diese Annahme aufgrund fehlender Funde von Menschenknochen aus den schwäbischen Höhlen weder bestätigt noch widerlegt werden.
Die Venus vom Hohle Fels bildet ein Hauptexponat der großen Landesausstellung in Stuttgart mit dem Titel ‚Eiszeit – Kunst und Kultur‘, die vom 18. September 2009 bis zum 10. Januar 2010 gezeigt werden wird.
(idw – Universität Tübingen, 14.05.2009 – DLO)