Was passiert, wenn Sinnesorgane wie die Netzhaut des Auges verletzt sind? Die zuständigen Gehirnnervenzellen empfangen dann keine Eingangssignale mehr. Doch jetzt haben Forscher mit einer neuen Methode herausgefunden, dass die Zellen dann Signale von ihren Nachbarzellen mit verarbeiten. Nach und nach entstehen so neue Netzwerke – zunächst vorübergehende, später dann bleibende Verknüpfungen. Die Studie ist in der aktuellen Ausgabe der Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erschienen.
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In der Großhirnrinde sind Nervenzellen engmaschig und weitreichend verknüpft: Man schätzt, dass die Gesamtlänge der Verbindungen zwischen den Nervenzellen in einem Kubikmillimeter grauer Gehirnsubstanz bis zu drei Kilometern entspricht. Jede Zelle erhält somit mehrere tausend Eingangssignale
und sendet ebenso viele Ausgangssignale an zum Teil weitentfernte Neurone weiter. So breiten sich Erregungen rasch wellenförmig aus. Was passiert aber, wenn plötzlich durch eine Verletzung der Sinnesorgane Teile der üblichen Eingangssignale fehlen?
Erwachsenes Gehirn flexibler als gedacht
„Da die Verschaltungen zwischen den Nervenzellen in frühen Phasen der Entwicklung gebildet und stabilisiert werden, hat man lange Zeit angenommen, dass das erwachsene Gehirn solche Verletzungen nicht kompensieren kann“, so Dirk Jancke vom Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum. In den vergangenen Jahrzehnten konnten Wissenschaftler jedoch nachweisen, dass auch das erwachsene Gehirn die Fähigkeit zu plastischen Veränderungen hat, wenn auch in begrenztem Umfang: Alte, nicht mehr gebrauchte Kontakte zwischen Zellen werden abgeschwächt oder gelöst, neue bilden sich.
Anschluss an Nachbarn
„Kortikale Nervenzellen die durch die Netzhautschädigung plötzlich keinen direkten Eingang mehr haben, können durch den Anschluss an ihre noch funktionstüchtigen weiter entfernten Nachbarn zumindest wieder um die Ecke sehen“, so Jancke. Experimentell sichtbar wird dieser Prozess bereits wenige Wochen nach der Verletzung, wenn Aktivitätswellen aus der intakten Umgebung verstärkt in die betroffenen Bereiche vordringen.
Optische Messung mit spannungsabhängigen Farbstoffen
Ältere Messverfahren, die die elektrische Aktivität der Nervenzellen auswerten, konnten bisher nur summierte Signale darstellen. Die neue Methode ist jedoch sensibler: Es erscheinen auch latente Eingangssignale fluoreszierend. „Mit unserem neuen bildgebenden Verfahren haben wir erstmals die lange vermutete fortschreitende Ausbreitung und Verstärkung von zunächst unterschwelligen Aktivitätswellen in die betroffenen Bereiche gezeigt“, erklärt Jancke.
Bei dem optischen Messverfahren werden allmähliche Potentialänderungen an den Synapsen, wie sie bei Aktivität von Nervenzellen entstehen, registriert. Sie erscheinen als Änderungen der Intensität fluoreszenten Lichts. Dabei wird ein Farbstoff genutzt, der in Zellwände eingebaut wird und proportional zur Spannung über der Zellwand Photonen aussendet. Ein hochauflösendes Kamerasystem detektiert diese Lichtsignale, die dann durch nachfolgende Rechenoperationen visualisiert werden können. Die Farbstoffe und die Grundlagen der Messtechnik wurden im Labor von Professor Grinvald vom Weizmann Institute of Science in Israel entwickelt.
Die Ergebnisse zeigten, dass sich nach einer kleinen punktförmigen Netzhaut- Verletzung in der Großhirnrinde von Mäusen dreimal so viele neue Nervenfortsätze, so enannte „spines“, bilden. Dabei wurden vorübergehend neu entstandene Zellkontakte oftmals wieder gelöst, andere gebildet, bis sich schließlich stabile Verbindungen etabliert hatten.
(Ruhr-Universität Bochum, 08.05.2009 – NPO)