Die „Dornenkrone“ am Kopf mancher Wasserflöhe galt bisher als eindeutiges und artspezifisches Merkmal und wurde zur Unterscheidung verschiedener Spezies herangezogen. Doch eine genetische Untersuchung dieser winzigen aquatischen Krebse zeigte jetzt, dass selbst solche prominenten Charakteristika in die Irre führen können. Denn die Dornen im Kopfbereich der Tiere werden nur ausgebildet, wenn diese ihren Lebensraum mit räuberischen Krebsen teilen.
„Die Krone bietet also Schutz vor dem Fraßfeind, ist aber für keine der untersuchten Arten charakteristisch. Wir konnten damit nicht nur ein neues faszinierendes Verteidigungssystem nachweisen, sondern gleichzeitig den Wert genetischer Daten für die Untersuchung ökologischer und evolutionsbiologischer Zusammenhänge unter Beweis stellen“, so Christian Laforsch von der Universität München in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences PNAS“.
„Barcoding“ erfasst Artunterschiede
Die Abgrenzung verwandter Spezies anhand äußerer Merkmale fällt oft selbst Fachleuten schwer. Vor allem die so genannten kryptischen Arten sind sich so ähnlich, dass sie kaum unterschieden werden können. Nur auf der Ebene des Erbmoleküls DNA mit den genetischen Anlagen ist eine eindeutige Klassifizierung möglich.
Deshalb werden seit längerem auch die genetischen Daten der Tiere in taxonomischen und ökologischen Studien – etwa zur Untersuchung der Biodiversität in einem Lebensraum – herangezogen. Bei diesem so genannten „Barcoding“ werden Artunterschiede anhand ausgewählter genetischer Marker erfasst. Diese können dann auch im Widerspruch stehen zu morphologischen Kriterien, die bisher zur Klassifizierung von Arten herangezogen wurden.
Dornenkrone nicht arttypisch
Die Forscher um Laforsch und Andreas Haas vom Lehrstuhl für Evolutionsökologie am Department Biologie II und Geobio Center München sowie die Kollegen Adam Petrusek, Prag, Professor Ralph Tollrian, Bochum, und Klaus Schwenk, Frankfurt, konnten nun einen derartigen Irrtum bei zwei Arten von Wasserflöhen nachweisen.
Die Forscher haben gezeigt, dass die Dornenkrone am Kopf mancher Tiere als Merkmal nicht typisch für eine Spezies ist, sondern nur bei Bedarf und unabhängig von der Art ausgebildet werden. Die Ausbildung unterschiedlicher Gestalten in unterschiedlichen Umwelten wird als phänotypische Plastizität bezeichnet.
Kostensenkung bei Wasserflöhen
„Die Wasserflöhe der Daphnia-Gruppe können sich gut gegen Räuber verteidigen“, so Laforsch. „Treten die Fraßfeinde nur zeitweise auf, bilden die Wasserflöhe ihre Verteidigung nur aus, wenn sie benötigt wird. Sind keine Räuber vorhanden, werden die Kosten für den Schutz eingespart.“
Die Gestalt von Organismen dient aber gerade in der klassischen Taxonomie als Erkennungsmerkmal für Arten. Heute werden zunehmend aber auch genetische Methoden eingesetzt. Es gibt sogar Bestrebungen, artspezifische Variationen in einzelnen Genen zu klassifizieren – für einen Barcode je Spezies. Bei der nun vorliegenden Untersuchung der Stammesgeschichte von Wasserflöhen zeigten die genetischen Daten, dass die bisher zur Abgrenzung der Arten Daphnia atkonsoni und Daphnia bolovari verwendete Dornenkrone in mehreren genetisch unterscheidbaren Linien vorkommt – aber keinen Hinweis auf die Verwandtschaft gibt.
„Das Merkmal war aber an das Vorkommen in bestimmten Habitaten geknüpft“, so Laforsch. „Die Daphnien mit den ausgeprägten Dornenkronen koexistierten in ihrem Lebensraum mit dem räuberischen Urzeitkrebs Triops cancriformis. Diese Tiere gelten als lebende Fossilien mit einem seit 220 Millionen Jahren unveränderten Bauplan. Wenn die Daphnien chemische Stoffe des Räubers im Wasser erkennen, bilden sie die Dornen aus und sind dann als Beutetiere nicht mehr besonders begehrt. Triops verfügt nämlich im Mundbereich über Borsten mit Sinnenorganen, die sich bei Angriffen in den Dornen verhaken. Üblicherweise lässt der Räuber von Daphnien mit Dornenkrone wieder ab.“
Faszinierendes Beispiel für Evolution
Insgesamt ist dies ein faszinierendes Beispiel für das Wirken der Evolution, in diesem Fall für die Anpassung eines Beutetieres an seinen Räuber. Die bisher unbekannte Art der Verteidigung ist wahrscheinlich weit verbreitet. Denn auch aus Grönland und Südafrika sind Daphnienarten mit Dornenkronen bekannt. Sie koexistieren in ihren Habitaten ebenfalls mit räuberischen Urzeitkrebsen. Die Untersuchung unterstreicht auch die Bedeutung der DNA barcodes und anderer molekularer Daten für die Klassifizierung von Arten sowie für die Entschlüsselung bislang unbekannter ökologischer Zusammenhänge und der Interaktionen von Arten.
(idw – Universität München, 19.01.2009 – DLO)