Unser Gehirn arbeitet im Prinzip wie eine Handy-Eingabehilfe: Wenn wir einem Vortrag oder Gespräch lauschen, hat es, noch bevor der Sprecher ein Wort beendet hat, bereits verschiedene Wortvorschläge parat. Im Unterschied zu „T9“ und anderen Systemen bezieht das Gehirn dabei jedoch auch die Bedeutungen der Wörter mit ein.
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Vorherige Theorien zur Sprachverarbeitung gingen davon aus, dass ein Zuhörer bis zu etwa fünf Silben pro Sekunde aufnehmen kann. Dies gelingt ihm nur, weil das Gehirn einen kleinen Teil aller ihm bekannten Wörter aktiv vorhält und sie dafür nutzt, um das Wortende eines angefangen Begriffs vorherzusagen. Im Prinzip sollte das ähnlich funktionieren wie bei der Sucheingabe in Google, wo das Eingabefeld Vorschläge ähnlich beginnender Wörter macht, wenn man einen Wortanfang eintippt. Dieses Vorwegnehmen des kompletten Wortes macht das Hören effizienter, da das Gehirn nicht immer auf die Wortendungen warten muss.
Nur Klang oder auch Bedeutung?
Doch bis jetzt war nicht klar, ob das Gehirn einfach nur gleichbeginnende Worte, egal was sie bedeuten, vorschlägt oder ob dabei auch die Bedeutung mit einfließt. In einem Experiment haben das nun Wissenschaftler der Universität von Rochester getestet. Mithilfe eines bildgebenden Verfahrens konnten sie selbst die in Bruchteilen von Sekunden stattfindende Aktivität des Gehirns festhalten.
„Wir mussten einen Weg finden, einen extrem schnellen Vorgang im Gehirn einzufangen, er ist so schnell, dass er buchstäblich zwischen zwei Silben stattfindet“, erklärt Michael Tanenhaus, Professor für kognitive Wissenschaft an der Universität von Rochester. „Das beste Werkzeug, das wir für eine Abbildung des Gehirns haben, ist die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI), aber diese braucht ein paar Sekunden um eine Aufnahme zu erstellen. Daher dachte man, es kann dafür nicht genutzt werden.“
Kunstwörter als Testhilfe
Aber mithilfe eines Tricks gelang es den Forschern trotzdem: Die Wissenschaftler konzentrierten sich auf einen kleinen Bereich des Gehirns, das so genannte V5-Areal, das immer dann aktiv wird, wenn der Mensch Bewegung wahrnimmt, aber auch, wenn er Wörter hört, die die Bedeutung von „Bewegung“ haben. Damit keine Assoziationen mit bestehenden Wörtern die Versuche verfälschten, nutzten die Forscher keine real existierende, sondern eine ausgedachte Sprache für ihre Tests. In der Kunstsprache begannen die meisten Wörter mit der gleichen Silbe, endeten aber unterschiedlich.
Die Versuchspersonen lagen im Magnetresonanztomographen und sahen verschiedene unregelmäßige Formen. Gleichzeitig hörten sie vorher gelernte Verben in der Kunstsprache, die das Verhalten der Formen beschrieben: „Biduka“ bedeutete, dass sich die Form bewegen wird, „biduko“, dass sie die Farbe wechseln wird.
Gehirn reagiert noch vor Wortende
Es zeigte sich, dass das V5-Areal des Gehirns tatsächlich sowohl bei dem Farbwechsel-Verb als auch beim Bewegen-Verb aktiv war, wenn auch bei ersterem etwas schwächer. Nach Ansicht der Wissenschaftler deutet dies darauf hin, dass das Gehirn für den Bruchteil einer Sekunde bei beiden Wortanfängen die Bedeutung „Bewegung“ in Betracht zog und erst, als die letzte, unterscheidende Silbe erklang, bei dem nicht zutreffenden die Aktivität einstellte.
„Ehrlich gesagt waren wir erstaunt, dass wir etwas so subtiles überhaupt nachweisen konnten”, erklärt Tanenhaus. „Aber es macht Sinn, dass unser Gehirn es auf diese Weise löst. Warum bis zum Ende des Wortes warten bis man über eine Bedeutung nachdenkt? Aus einer kleinen Vorauswahl auszuwählen geht ja viel schneller als das fertige Wort mit meinem gesamten Vokabular abzugleichen.“
Die Forscher planen bereits weitere Versuche, in denen sie auch andere Gehirnareale, die beispielsweise für spezifische Klänge oder Berührungen zuständig sind, auf ihre Reaktion testen wollen. „Dies eröffnet einen neuen Weg zu erfahren, wie wir Bedeutung aus der Sprache ziehen”, so Tanenhaus. „Dieses neue Prinzip kann auf ungezählte Weise genutzt werden um zu untersuchen, wie das Gehirn auf sehr schnelle Ereignisse reagiert. Wir sind gespannt, wohin uns dies führen wird.“
(University of Rochester, 16.09.2008 – NPO)