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Klimaarchiv Muschel

Warum sind Muschelschalen ein Fenster in das Klima der Vergangenheit?

Angefärbter Querschnitt durch den Schlosszahn einer Islandmuschel der Nordsee mit klar erkennbaren Jahresinkrementen. Die Breite der Inkremente schwankt im Rhythmus von ca. 8 Jahren als Folge unterschiedlichen Nahrungsangebots. © Institut für Geowissenschaften, Department für Angewandte und Analytische Paläontologie

Wer im Sommerurlaub am Meer Muscheln findet, wird wohl kaum wissen, dass er damit ein einzigartiges Klimaarchiv in den Händen hält. Wissenschaftlern erlauben die harten Kalkschalen einen Blick tief in die Erdgeschichte – und sie liefern ihnen wertvolle Informationen über das Klima längst vergangener Zeiten.

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„Aktuell können wir anhand von Muschelschalen die Klimageschichte der vergangenen 500 Jahre mit jährlicher Auflösung rekonstruieren und zum Beispiel nachweisen, dass sich die Nordsee im Verlauf der letzten hundert Jahre wohl unter dem Einfluss des Menschen um ein Grad erwärmt hat“, erklärt der Mainzer Paläontologe Professor Bernd Schöne. „Unsere Wissenschaft, die Mollusken- Sclerochronologie, ist recht jung und steckt noch in den Kinderschuhen. Schon bald werden wir aber zeigen können, welchen Klimaschwankungen die Nordsee und der Nordatlantik im Laufe der vergangenen Jahrtausende unterlagen und was genau sich mittlerweile verändert hat.“

Der Wissenschaftler von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hofft sogar, längerfristig noch weiter in die Geschichte unseres Planeten zurückgehen zu können. An den Muscheln selbst wird dies nicht scheitern: Die ältesten Muscheln, die heute als Fossilien zu finden sind, entstanden vor 500 Millionen Jahren.

Muscheln zeichnen Vulkanausbrüche auf

Doch warum sind Muscheln so ein einzigartiges Klimaarchiv? Die Schalen bilden deutliche Zuwachsmuster, in denen sich vor allem wechselhafte Nahrungsbedingungen, Temperaturschwankungen und Umweltverschmutzungen abbilden. Muscheln sind zudem weltweit verbreitet und finden sich in Polnähe und am Äquator, an Land und im Meer, in der Tiefsee und auf dem Schelf, in der Gezeitenzone und in Flüssen, Bächen und Seen.

„Muscheln sind einfach überall und liefern uns je nach Standort wichtige Informationen über klimatische Entwicklungen. Sie zeichnen Vulkanausbrüche auf Island oder das Auftreten eines Hurrikans in Florida auf; sie können uns beispielsweise aber auch verraten, ob die früheren Indianervölker an der kanadischen Westküste Muscheln bei Vollmond, Halbmond oder Neumond gesammelt haben“, erklärt Schöne. Auch wenn viele Arten sehr langlebig sind und die Schalen Jahrtausende überdauern, sind Muscheln äußerst empfindlich: Auf Umweltverschmutzungen reagieren sie mit einem geringeren Schalenzuwachs. Deshalb eignen sie sich auch zur langfristigen Überwachung der Wassergüte.

Der Methusalem unter den Muscheln

Ein besonders beliebtes Untersuchungsobjekt von Schöne und seinem Team ist die Islandmuschel. Arctica islandica, so der wissenschaftliche Name, lebt im gesamten Nordatlantik in Wassertiefen zwischen 20 und 400 Metern. Bis zum Einbruch des Dollarkurses wurden hauptsächlich vor Island 12.000 Tonnen jährlich davon aus dem Meer geholt, um den amerikanischen und japanischen Markt zu versorgen. Die Muschelfischer pflügen dazu mit so genannten Dredgen, eine Art überdimensionale Gabel mit Netz, den Meeresboden durch, wo die Tiere halb im Sediment vergraben leben.

In der Nordsee ist die Islandmuschel heute nur noch in kleinen Populationen vertreten. Zum Verhängnis wurde ihr unter anderem das extrem hohe Lebensalter und die daher langsame Erholung der Bestände. Arctica islandica wird bis zu 400 Jahre alt und ist damit der Methusalem unter den Muscheln – ein Umstand, den sich die Wissenschaftler zunutze machen. „Die Islandmuscheln liefern extrem wertvolle langfristige Aufzeichnungen über die Umweltbedingungen und ihre Veränderung im Meer“, sagt Schöne. Wenn tote Muscheln gefunden werden, deren Lebensspannen mit lebend gesammelten Individuen überlappen, entsteht daraus ein zusammenhängendes Bild der Klimageschichte.

Muscheln speichern Änderungen der Nordatlantischen Oszillation

Anhand der Islandmuschel hat Schöne 2003 beispielsweise zum ersten Mal nachweisen können, dass Muscheln Änderungen der Nordatlantischen Oszillation (NAO) – Klimamotor der nördlichen Halbkugel – speichern. Demnach ist seit den 1960er Jahren ein Trend zu milden Wintern erkennbar, vielleicht eine Folge der vom Menschen verursachten Klimaveränderung. Schöne kann aber auch feststellen, wie viel von dem Treibhausgas Kohlendioxid in die Ozeane eingewaschen wird und welcher Anteil davon aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe seit Beginn der Industrialisierung vor rund 200 Jahren stammt.

Denn im Wasser bildet Kohlendioxid eine Säure, die das Entstehen von kalkigen Skeletten empfindlich stören kann – ein sich künftig dramatisch verschärfendes Problem für die marinen Lebewesen. Mit Hilfe der Muscheln können Wissenschaftler nun erstmals auch die natürliche Schwankung des CO2-Anteils im Ozean vor der Industrialisierung präzise für ein ganz bestimmtes Jahr ermitteln.

Muschelschalen mit periodischen Wachstumslinien

Diese genauen Datierungen sind möglich, weil die Muschelschalen periodisch Wachstumslinien bilden, zum Beispiel Jahreslinien oder Tageslinien. Muscheln produzieren in ihren Schalen sozusagen einen Kalender. Ursächlich für die täglichen Zuwachsmuster sind biologische Uhren, die auch uns Menschen mit großer Verlässlichkeit morgens aufwachen und abends müde werden lassen. Bei der Islandmuschel ist der Auslöser für die jährliche Unterbrechung des Schalenzuwachses die Reproduktionsphase, die etwa vier Wochen nach dem sommerlichen Temperaturmaximum ihren Höhepunkt erreicht, so Schöne. Die Muschel zählt offenbar die Tage nach dem saisonalen Temperaturmaximum und gibt dann Eier und Spermien ins Wasser ab.

Gezeitengesteuertes Schalenwachstum der Buttermuschel (Saxidomus giganteus) von British Columbia. © Institut für Geowissenschaften, Department für Angewandte und Analytische Paläontologie

Eine Besonderheit ist bei Muscheln der Gezeitenzone entwickelt. Dort bilden sich jeden Tag zwei Wachstumslinien aus, nämlich jeweils bei Ebbe. Nur unter Wasserbedeckung, also bei Flut, wachsen die Schalen. Im Falle der Muschelschalen aus indianischen Küchenabfallhaufen vor British Columbia kann anhand der Zuwachsmuster sogar ermittelt werden, ob die Muscheln bei Vollmond oder Halbmond gesammelt wurden. „Wir arbeiten hier eng mit Archäologen zusammen, um festzustellen, ob die Indianer nach den Muscheln getaucht sind oder diese einfach bei Ebbe aufgesammelt haben, ob die Tiere bei Tag oder Nacht gesammelt worden sind, weit entfernt von der Küste oder küstennah. All das verraten uns die Schalen der Muscheln.“

Diamantsägeblätter und Färbebäder im Einsatz

Schöne untersucht die Muschelschalen, indem er sie mit hauchdünnen Diamantsägeblättern aufschneidet und kleine Teile entnimmt, die dann in ein Färbebad eingelegt werden. Zu sehen ist anschließend ein dreidimensionales Relief mit deutlich blau gefärbten Wachstumslinien.

Muschelschalen sind so genannte Kompositmaterialen oder Biominerale, die durch Einlagerung von Kristallen in ein organisches Gerüst gebildet werden. Wissenschaftler wie Schöne untersuchen darin unter anderem stabile Isotope des Sauerstoffs und Kohlenstoffs, die in dem Kristallgitter aus Kalziumkarbonat eingebaut sind, sowie die Elemente Strontium, Magnesium und Barium. Dabei kommen moderne mikroanalytische Verfahren zum Einsatz, die erst seit wenigen Jahren verfügbar sind. Aus den Isotopenverhältnissen und Spurenelementen können die Forscher dann beispielsweise Wassertemperaturen und Salzgehalte bestimmen.

Im Labortrakt der Mainzer Paläontologie werden aber auch Muscheln extra gezüchtet und im Abstand von 15 Sekunden mit einer Digitalkamera fotografiert. „Damit wollen wir prüfen, ob tatsächlich eine tägliche biologische Uhr vorhanden ist. Manche Muschelarten wie die bei uns heimische Teichmuschel sind nur acht Stunden täglich aktiv und wachsen nur dann, während ihre Schalen die restliche Zeit halb geschlossen sind und sie sozusagen schlafen. Aktivitäts- und Ruhephasen wechseln einander mit hoher zeitlicher Präzision ab“, erklärt Schöne.

Geheimnisse aus der Zeit vor 28 Millionen Jahren

Doch die Muscheln mit ihrer weltweiten Verbreitung und ihrem hohen Lebensalter, das kein anderes einzeln lebendes Tier erreicht, halten noch zahlreiche Klimainformationen bereit. „Die im Pazifik beheimate Elefantenrüsselmuschel lebt zeitlebens, und das sind typischerweise deutlich mehr als 100 Jahre, etwa einen Meter tief im Sediment vergraben. Nach ihrem Tod verbleibt sie in dieser Tiefe, ein unglaubliches Klimaarchiv“, so Schöne. Aber auch bei uns in der Nähe lagern Geheimnisse. So existierte vor 28 Millionen Jahren von der Gegend um Basel bis zur heutigen Nordsee eine enge Meeresstraße, deren Muschelreste Aufschluss über Klimaschwankungen und jahreszeitliche Extreme liefern.

Aber wie weit die Erdgeschichtler auch immer zurückblicken: Ihr Interesse gilt doch immer auch dem Hier und Jetzt: „Wir wollen die natürlichen Klimaschwankungen vor Beeinflussung durch den Menschen untersuchen, um zu berechnen, wie stark das Klima heute davon abweicht“, fasst Schöne das Forschungsziel der Sclerochronologie zusammen.

(idw – Universität Mainz, 22.07.2008 – DLO)

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