Forscher haben kleine Moleküle gefunden, die Zellen daran hindern, zu wandern. Dazu testeten sie 2,3 Millionen Verbindungen am Computer. Nach Ansicht der Wissenschaftler könnten die Substanzen vielleicht einmal zu einem Wirkstoff führen, der die Metastasenbildung unterdrückt.
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Neunzig Prozent aller bösartigen Geschwulste sind Karzinome, das bedeutet, sie entstehen aus Epithelzellen. Epithelzellen bilden die äußere Haut und kleiden die inneren Organe aus, so die Darmwand oder die Brustdrüsen. Sie kommen in ein- oder mehrlagigen Schichten vor und sind reich an Zellkontakten, den Zelladhäsionsmolekülen. Epithelien sind durch die Basalmembran klar vom Bindegewebe getrennt und enthalten keine Blutgefäße.
Um einen Tumor zu bilden, müssen diese Zellen invasiv werden, das heißt, sie müssen ihre Kontakte untereinander verlieren und wandern können. Dies ähnelt Vorgängen während der Embryonalentwicklung, wo Epithelzellen ihre epithelialen Eigenschaften verlieren, indem sie ihre Zellkontakte auflösen und Adhäsionsmoleküle wie E-Cadherin herunterregulieren. Dadurch können die Zellen wandern und die Basalmembran passieren. In ihrem Zielgebiet angekommen, können sie sich zu verschiedenen Zellen oder wieder zu Epithelzellen differenzieren.
Bereits 1987 fand Sir Michael Stoker, dass ein Protein mit dem Namen Hepatozyten-Wachstumsfaktor, abgekürzt HGF (hepatocyte growth factor) in der Lage ist, die Epithelzellen zum Loslassen zu bewegen. Das Protein wird deshalb auch als Scatter-Faktor (SF) bezeichnet (to scatter = zersteuen). Fachleute benutzen beide Bezeichnungen in einer Abkürzung: HGF/SF.
Wichtiger Signalweg untersucht
Professor Walter Birchmeier und Dr. Klaus Hellmuth vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) haben nun gemeinsam mit Professor Jörg Rademann vom Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) einen Signalweg untersucht, der von HGF/SF ausgelöst wird. Trifft HGF/SF auf den Rezeptor Met-Tyrosinkinase, der in der Zellmembran sitzt, wird dadurch eine Kettenreaktion in Gang gesetzt an deren Ende in der Zelle die MAP-Kinase aktiviert und dadurch verschiedene Gene angeschaltet werden.
Ist dieser Signalweg an einer Stelle gestört, werden die Zellen zu ungehemmtem Wachstum animiert und verlieren ihre Kontakte untereinander – ein Tumor kann entstehen. Lässt sich der Signalweg jedoch hemmen, könnte das Tumorwachstum gestoppt werden.
Als Angriffspunkt innerhalb des Signalweges wählten die Wissenschaftler die Tyrosinphos phatase, kurz Shp2. Von dieser weiß man, dass sie, wenn sie mutiert ist, eine spezielle Form der Leukämie bei Kindern (Juvenile Myelomonozytäre Leukämie – JMML) und andere Krebsarten sowie eine Entwicklungsstörung (Noonan Syndrom) hervorrufen kann.
„Von Shp2 war uns zwar die chemische Struktur bekannt, aber sie lag noch nicht kristallin vor“, sagt Birchmeier. Dies sei jedoch eine Voraussetzung dafür, dass man mittels Röntgenstrukturanalyse das aktive Zentrum des Proteins charakterisieren und daraus Rückschlüsse auf mögliche Hemmstoffe ziehen könne.
Sechs Verbindungen bestanden Praxistest
Die Wissenschaftler haben deshalb einen Trick angewandt: Von verwandten Tyrosinphosphatasen gab es bereits Strukturmodelle. Bei einem solchen Modell tauschte Hellmuth am Computer einzelne Bausteine, sprich Aminosäuren, aus, bis das Modell Shp2 entsprach. Die Wissenschaftler konnten sich auf diese Weise ein genaues Bild des Proteins und seiner aktiven „Tasche“ machen.
Hellmuth berechnete daraufhin für 2,3 Millionen kleine Verbindungen am Computer, ob sie in die Tasche passen und damit die Aktivität von Shp2 hemmen könnten. Von diesen wählten die Wissenschaftler die zwanzig besten aus. „Wir haben dann in einem biochemischen Essay untersucht, ob diese Verbindungen Shp2 wirklich hemmen“, sagt Rademann.
Sechs Verbindungen bestanden den Praxistest. Diese sehr gute Quote führen die Wissenschaftler darauf zurück, dass das Computer-Modell von Shp2 der Realität recht nahe kommt. Außerdem ist die Tasche nach Aussage der Wissenschaftler wenig beweglich, was solche Berechnungen überhaupt nur sinnvoll mache.
PHPS1 wirkt selektiv
Von der besten der zwanzig Verbindungen synthetisierten die Chemiker in Rademanns Team dann verschiedene Abkömmlinge. Es handelt sich um kleine Heterozyklen mit Pyrazolonkernen. Die wirksamste Verbindung nennen die Chemiker kurz PHPS1. Die Verbindung hemmt die Shp2-Tyrosinphos- Tyrosinphosphatase im mikromolaren Bereich.
Auch in einem so genannten Scatter-Essay war PHPS1 erfolgreich. In einem solchen Essay kann man beobachten, wie Epithelzellen im Reagenzglas auseinander driften, nachdem sie mit HGF/ SF behandelt worden sind. Die Zugabe von PHPS1 kann dieses Auseinanderdriften unterbinden. „Vielleicht können wir mit so einem Wirkstoff einmal die Metastasenbildung verhindern“, sagt Rademann.
Besonders optimistisch stimmt die Wissenschaftler, dass PHPS1 auch recht selektiv wirkt. Das bedeutet, andere Tyrosinphosphatasen werden von der Substanz nicht oder viel weniger gehemmt. „Dies ist ein wichtiger Punkt, denn Tyrosinphosphatasen spielen bei verschiedenen Geschehen im Körper eine Rolle“, erläutert Birchmeier. Nur Substanzen mit hoher Selektivität hätten auch wenige Nebenwirkungen.
Forscher wollen Aktivität weiter steigern
Rademann will PHPS1 nun weiter optimieren. So könnte die Aktivität um das hundertfache gesteigert werden, glaubt er. Auch die Selektivität ließe sich noch verbessern. Außerdem arbeiten die Chemiker daran, die chemischen Eigenschaften der Verbindung an die Verhältnisse im Organismus anzupassen und die im Molekül befindliche Nitrogruppe zu ersetzen, da diese im Stoffwechsel Probleme bereiten könnte.
(idw – Forschungsverbund Berlin, 13.06.2008 – DLO)