Kann ein Torhüter tatsächlich vorausberechnen, in welche Ecke der Schütze den Elfmeter schießen wird? Eine spannende Frage, gerade zu Beginn der Fußball-Europameisterschaft – auch für Leipziger Soziologen. Ihre neuen Ergebnisse sind jedoch wenig überraschend: Elfmeterschießen ist Glückssache. Sie erklären aber auch, warum.
Als Deutschland das Viertelfinale der letzten Fußball-WM im Elfmeterschießen gewann, glaubten viele, dass dies auch einem Zettel zu verdanken war. Auf diesem waren die Schussrichtungen von möglichen Schützen des argentinischen Gegners notiert. Hat der Torwart Lehmann das Strafstoßduell tatsächlich wegen des Zettels gewonnen? Anders gefragt: Was ist das strategisch optimale Verhalten beim Elfmeter?
Wohin soll der Torwart springen?
Dazu muss man sich das Interaktionsproblem von Schütze und Torhüter vergegenwärtigen. Diese stehen vor der Frage: Wohin soll der Ball geschossen werden beziehungsweise soll der Torwart springen? Die Schussgeschwindigkeit des Balles und die Ausmaße des Tores machen es erforderlich, dass der Torhüter sich für eine Ecke entscheidet bevor er eindeutig sehen kann, wohin der Ball fliegt.
Der Schütze wiederum weiß, dass der Torwart erst im letztmöglichen Moment in eine Ecke springen wird, da er sich sonst sämtlicher Abwehrchancen beraubt. Alle Tricks, Körpertäuschungen, Zettel und mehr helfen hier nur solange weiter, als der Gegner diese nicht ebenfalls kennt, was bei professionellen Spielern nicht zu erwarten ist.
Rechts oder nach links?
Wenn der Schütze Ayala nämlich weiß, dass er auf Lehmanns Zettel mit der Schussrichtung „rechts“ notiert ist, wird er nicht dorthin, sondern nach links schießen. Das weiß aber auch Lehmann und springt ebenfalls nach links, weshalb Ayala doch rechts wählt und so weiter.
Die Auflösung dieses scheinbar unendlichen Zirkels kann aus dem Minimax-Theorem abgeleitet werden: Beide Spieler müssen sich derart entscheiden, dass die Chance das Tor zu erzielen beziehungsweise den Schuss abzuwehren für jeden Punkt des Tores gleich groß ist. Dies können sie erreichen, wenn sie sich zufällig für eine Option entscheiden und damit unberechenbar für den Gegner bleiben.
Erfolg durch die Mitte
Die optimalen Wahrscheinlichkeiten mit denen diese zufällige Wahl geschehen muss, ergeben sich dabei aus dem erwarteten Gewinn den der Gegenspieler von einer bestimmten Aktion hat. Daraus können verschiedene Hypothesen abgeleitet werden, so die Leipziger Wissenschaftler. Zum Beispiel sollte der Schütze häufiger die Mitte wählen als der Torwart. Eine Überprüfung dieser und weiterer Vorhersagen an Hand aller 1.043 Elfmeter, die in der Bundesliga von 1992/93 bis 2003/04 geschossen wurden zeigt, dass die Spieler sich im Durchschnitt ungefähr wie vorhergesagt entschieden haben.
Warum aber beschäftigen sich Soziologen mit Strafstößen? Die strategische Interaktion, die dabei vorliegt, findet sich nicht nur beim Fußball, sondern in vielen anderen sozialen Interaktionen: Nämlich immer dann, wenn zwei Akteure Erwartungen bilden, die gegenseitig auf den jeweils anderen bezogen sind. In der Soziologie wird dieses Problem als „doppelte Kontingenz“ bezeichnet. Verschiedene Theorieprogramme befassen sich damit.
Kompetitive Diskoordinationsinteraktion
Für den speziellen Fall einer völlig kompetitiven Diskoordinationsinteraktion wie beim Elfmeter, sind allerdings nur aus der Spieltheorie prüfbare Vorhersagen abzuleiten. Dafür sind auch Daten einfacher zu beschaffen, als für andere gleich geartete soziale Situationen, wie für Entscheidungen im Stau.
Auch dort will jeder Autofahrer nicht die Straße wählen, auf der die anderen fahren und für die es eine Staumeldung gibt. Fährt allerdings jeder auf die Ausweichstrecke, verlagert sich der Stau dorthin und die andere Route ist frei, weshalb sich doch alle andersrum entscheiden.
Geduldsspiel zwischen Schaffner und Schwarzfahrer
Ein anderes Beispiel aus dem Alltag: Wenn alle Zugreisenden Karten haben, brauchen die Schaffner nicht zu kontrollieren. Dann aber würde es wieder Schwarzfahrer geben, so dass die Schaffner wieder kontrollieren werden.
Übrigens: Von den vier argentinischen Schützen waren nur zwei auf Lehmanns Zettel aufgeführt. Beide schossen auch wirklich in die vorhergesagte Richtung. Einen Schuss davon konnte Lehmann parieren. Das zeigt: Elfmeterschießen ist tatsächlich Glückssache.
Wissenschaftssommer mit Elfmeterschießen
Die Soziologen der Universität Leipzig präsentieren ihre Ergebnisse inklusive echtem Elfmeterschießen beim Wissenschaftssommer auf dem Leipziger Augustusplatz vom 28. Juni bis 4. Juli.
(idw – Universität Leipzig, 09.06.2008 – DLO)