In Meeressedimenten lagern Jahrmillionen alte Fossilien von Einzellern, den Foraminiferen, die Zeugen des Klimawandels in der Vergangenheit waren. Tübinger Wissenschaftler kennen die Lebensweise dieser heute noch vorkommenden Arten und können mit ihrer Hilfe die Umweltbedingungen längst vergangener Ozeane rekonstruieren. Die Daten nutzen Klimaforschern, um Modellrechnungen für die Zukunft zu verbessern.
Wie in der Paläontologie wird auch in der Mikropaläontologie mit Fossilien, also Überresten früherer Lebewesen, gearbeitet. Doch sind diese so klein, dass sie häufig nur unter dem Mikroskop zu erkennen sind. Der große Vorteil für die Mikropaläontologen ist, dass es die winzigen Fossilien zum Beispiel in bestimmten Tiefseesedimenten in rauen Mengen gibt. Professor Michal Kucera vom Institut für Geowissenschaften der Universität Tübingen hat als Untersuchungsobjekte Foraminiferen gewählt, das sind Einzeller, die von einer verzierten Kalzitschale umgeben sind.
Zu ihren Lebzeiten schweben planktonische Foraminiferen frei an der Meeresoberfläche, nach dem Tod sinken sie auf den Meeresboden, wo sie zu einem wichtigen Bestandteil des Tiefseesediments werden. Die Forscher kennen die Ökologie der heute noch lebenden Arten, zum Beispiel die Wassertemperatur, die sie bevorzugen.
Mit diesen Kenntnissen ausgestattet, erfassen Kucera und sein Team anhand von Proben aus den Tiefseesedimenten die Zusammensetzung der Foraminiferenarten und ihr Lebensgebiet in früheren Erdzeitaltern. Daraus lassen sich die Temperaturen des Meeres bis vor rund einer halben Million Jahre mit relativ großer Genauigkeit rekonstruieren. Diese Klimadaten aus früherer Zeit werden auch gebraucht, um Klimamodelle für die Zukunft zu überprüfen und zu optimieren.
Proben aus Sedimentkernen analysiert
„Mikrofossilien in Tiefseesedimenten dienen uns als Paläothermometer. Indirekt verraten sie uns, welche Temperaturen in zurückliegenden Erdzeitaltern geherrscht haben“, erläutert Kucera. Um dahin zu gelangen, müssen die Forscher zunächst in den heutigen Ozeanen untersuchen, bei welchen Temperaturen welche Arten leben. Über mathematische Formeln lässt sich die prozentuale Zusammensetzung der Fauna mit den Oberflächentemperaturen des Meeres mittels Transferfunktionen in Beziehung setzen.
„Würde man die Häufigkeit einer einzigen Foraminiferenart für die Temperaturbestimmung nehmen, würden nur sehr grobe Aussagen möglich sein. Wir beziehen jedoch mehrere Dutzend Arten in die Untersuchung ein“, sagt Kucera. Allerdings ist dadurch auch die Transferfunktion sehr viel komplizierter zu berechnen. Da ist es günstig, dass der Geologe auch Spaß an der Mathematik hat. Er nutzt dabei Algorithmen der künstlichen Intelligenz, wobei der Rechner selbständig lernt, wie sich die Foraminiferenarten und Umweltbedingungen zueinander verhalten, und berücksichtigt dies bei den Berechnungen.
Um die Umweltbedingungen wie zum Beispiel die Temperatur der vergangenen Meere zu erfassen, untersuchen die Mikropaläontologen Proben aus Sedimentkernen. „Ein Sedimentkern lässt sich wie ein Archiv lesen: Einzelne Schichten sind wie Blätter einer Aufzeichnung der Erdgeschichte; je tiefer die Schicht, desto älter ist sie“, sagt Kucera. Die Sedimentkerne, die aus schlammigem Material bestehen, werden in zentimeterdicke Scheiben geschnitten und können dann bearbeitet werden. Bis zu 50 Prozent des Sediments machen die fossilen Foraminiferen aus.
Temperaturen der Vergangenheit rekonstruieren
Das Material wird gesiebt und von Tonpartikeln befreit. Dann zählen die Mikropaläontologen die Menge jeder Foraminiferenart unter dem Mikroskop. Über die Transferfunktionen, die der Forscher erarbeitet hat, werden die Temperaturen in der Vergangenheit rekonstruiert. Die Ergebnisse vergleichen die Wissenschaftler mit denen aus anderen Verfahren, zum Beispiel einem chemischen Verfahren, bei dem der temperaturabhängige Einbau verschiedener Spurenelemente in die Kalzitschalen der Foraminiferen gemessen wird.
„Die Methoden stimmen generell gut überein. Die Methode der Temperaturbestimmung mit Foraminiferen ist ausgereift. Genauer als mit einer Präzision von plus/minus ein bis zwei Grad, die wir bereits erreicht haben, geht es nicht“, sagt Kucera.
Für ihre Untersuchungen der letzten Eiszeit im Mittelmeer haben die Forscher rund 40 Sedimentkerne untersucht. Zur großen Freude sonnenhungriger Touristen heizt sich heute das Mittelmeer in Südfrankreich und an der Küste Spaniens auf Temperaturen von mehr als 22 Grad Celsius, im Osten, in der Türkei und Griechenland sogar auf mehr als 25 Grad auf.
Eiszeit kühlte Mittelmeer
Untersuchungen fossiler Foraminiferen zeigen jedoch, dass während der Eiszeit vor 20.000 Jahren die Mittelmeerküste Spaniens um mehr als zehn Grad kälter war, und das Meer bei Marseille im Sommer im Mittelwert nur zehn Grad erreichte. „Grund waren kalte Winde, die von dem vergletscherten Nordeuropa Richtung Süden wehten und denselben Korridor westlich der Alpen benutzten wie der heutige Mistralwind“, erklärt Kucera.
Auch das östliche Mittelmeer sei damals kälter gewesen als heute, allerdings nur um drei oder vier Grad. „Das Meer bei Libyen, Ägypten und den östlichen Mittelmeerländern war auch während der Eiszeit mehr als 20 Grad warm. Das wäre als Urlaubsregion für die Eiszeitmenschen in Frage gekommen“, meint der Forscher augenzwinkernd.
Doch warum interessiert die Forscher eigentlich die Temperatur des Eiszeitozeans? „Das Klima in der Zukunft wird mit Hilfe komplexer Simulationen berechnet. Solche bestehen aus einer Reihe von Gleichungen, in die verschiedene Parameter eingehen. Die Frage ist immer: Wie formuliert man die Gleichungen, damit alle wichtigen Aspekte des Klimasystems berücksichtigt sind?“, sagt Kucera.
Klimamodelle auf fremde Klimasituation einstellen
Eine Möglichkeit, die Aussagekraft der Klimaprognosen beurteilen zu können, besteht darin, die Klimamodelle auf eine fremde Klimasituation einzustellen und die berechneten Klimaparameter mit rekonstruierten Werten zu vergleichen. Die letzte Eiszeit ist für einen solchen Vergleich besonders gut geeignet. Kuceras Forschungsdaten gehen auf diese Weise in die Berichte des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change; Weltklimarat) zum Klimawandel ein, die seit einiger Zeit stark in der Öffentlichkeit diskutiert werden.
Der Mikropaläontologe Kucera macht deutlich, dass die Forscher für belastbare Aussagen sehr sorgfältig Zeit und Ort ihrer Untersuchungen festhalten müssen: „Das Eiszeitmaximum wird definiert als die maximale Verbreitung kontinentaler Gletscher. Die niedrigste Temperatur des Mittelmeers ergab sich jedoch deutlich später“, sagt er.
Wichtige Erkenntnisse über das gesamte System Erde
Doch bei aller Sorgfalt blieben auch immer Unsicherheiten bei Forschungsergebnissen. „Es ist sinnvoll, diese zu analysieren. Es ist für Forscher oft viel informativer, die Unsicherheiten genau zu kennen, als sich auf präzise Daten festzulegen.“
Das mikrofossile Archiv bietet unerwartet viele Informationen. So ermöglichen die Untersuchungen fossiler Foraminiferen nicht nur präzise Aussagen über das Ausmaß der Klimaschwankungen in der Erdgeschichte, sondern auch über die Art und Weise, wie die Ökosysteme auf diese Störungen reagierten sowie über Massenaussterben und die Evolution neuer Arten, so Kucera: „Die mikroskopische Zeitreise führt die Mikropaläontologen über Millionen Jahre hinweg zu wichtigen Erkenntnissen über das gesamte System Erde.“
(idw – Universität Tübingen, 25.03.2008 – DLO)