Manche Schildkröten verwandeln sich im Laufe ihres Lebens vom Fleischfresser im Wasser zum Pflanzenfresser an Land: Dies haben Wiener Wissenschaftler herausgefunden. Ursache für diese erstaunliche Entwicklung: Wenn die Zunge der Tiere zu groß wird, behindert sie die Nahrungsaufnahme im Wasser.
Wasserschildkröten, Riesenschildkröten, Wüstenschildkröten, Landschildkröten, Lederschildkröten, Sumpfschildkröten: Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden. Es gibt zahlreiche Arten, denn Schildkröten haben sich an sehr unterschiedliche Lebensräume angepasst. Professor Josef Weisgram und sein Team vom Department für Theoretische Biologie der Universität Wien konnten nachweisen, dass Schildkröten entgegen der bisher verbreiteten wissenschaftlichen Meinung nicht von rein terrestrischen Ahnen, sondern von (semi-)aquatischen abstammen. In dem seit November 2007 laufenden neuen Projekt des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) erforscht die Gruppe nun, wie sich der Nahrungsaufnahmeapparat bei Schildkröten vom frisch geschlüpften bis zum erwachsenen Tier entwickelt.
Die Zunge als Entwicklungsindikator
„Es gibt Schildkröten, die zu Beginn eher Fleischfresser sind, aber mit zunehmendem Alter Pflanzenfresser und damit auch terrestrischer werden“, erzählt Weisgram. „Wir gehen davon aus, dass es in der Individualentwicklung der Schildkröten irgendwann einen ‚Point of no return‘ geben muss, und den möchten wir herausfinden“, so Weisgram. Die Zunge der Tiere kann beispielsweise nur an Land zur Nahrungsaufnahme eingesetzt werden, nicht aber unter Wasser, denn sie behindert den Wasserstrom beim Nahrungstransport in die Mundhöhle. Doch wann ist nun der Moment, an dem die Zunge zu groß wird, so dass die Schildkröte nicht mehr ins Wasser zurückkehrt und beschließt an Land zu leben, fragen sich die Forscher.
Analysen des Fressvorganges mit Röntgenfilmen und Hochgeschwindigkeitskameras
Die Bandbreite der Untersuchungsmethoden reicht von Röntgenfilmen, die innere Strukturen und deren Bewegungen zeigen, über anatomische Untersuchungen bis hin zu Filmanalysen mit Hochgeschwindigkeitskameras. Schildkröten sind zwar gemeinhin als langsame Tiere bekannt, es gibt jedoch Arten, die beim Fressen zu einer der schnellsten Bewegungen im ganzen Tierreich fähig sind. Durch die im Labor angefertigten Filmanalysen hoffen die Wissenschafter mehr über die Bewegungen des Zungenbeins und des Mauls zu erfahren.
Schildkröten saugen Beute ein
Beispielsweise ist der Fressvorgang der im Wasser lebenden Schildkröte Matamata, der mit freiem Auge nicht erfassbar ist, mit der Spezialausrüstung analysiert worden. Die Tiere strecken zuerst den Hals mit hoher Geschwindigkeit Richtung Beuteobjekt aus (schnappen also gewissermaßen danach), bremsen dann diese Bewegung kurz vor der Beute ab und saugen diese ein. Im Wasser lebende Schildkröten haben keine Zunge, deshalb saugen sie die Nahrung in ihren Körper.
Eine Zwischenstufe sind im Wasser lebende Schildkröten, die auch an Land Nahrung aufnehmen. Das ist für die semiaquatischen Tiere ein schwieriges Unterfangen, da ihnen die Zunge zum Weitertransport der Nahrung fehlt. Die Schildkröten lösen dies – wie Weisgrams Gruppe herausfand – mit „trägem Fressen“, so genanntem inertial feeding. Dabei ziehen sie den Kopf zurück und setzen damit das Futterstück in Bewegung, dann öffnen sie das Maul und strecken den Kopf nach vorne, wodurch das Futter gewissermaßen ein Stück „zurückfliegt“. „Das ist ähnlich wie bei Hühnern, die Körner picken“, zieht Weisgram einen Vergleich.
Vom primitiven Wassersauger zum modernen Landgänger
„Je nachdem, welche Fress-Strategien angewandt werden, kann man auf die Entwicklung oder auf die Position der Tiere im Evolutionssystem schließen“, erklärt Weisgram. Während das Fressen durch Saugen relativ primitiv ist, steht das Trägheitsfressen eine Stufe höher in der Entwicklung, und terrestrisches Fressen mit Zunge ist eventuell die Spitze der Evolution bei Schildkröten.
Nach Angaben der Wissenschaftler sind die im Projekt gewonnenen Daten unter anderem wichtig, um zu verstehen, wie sich Schildkröten in ihre jeweiligen Ökosysteme integrieren. Damit leisten die Forscher einen bedeutenden Beitrag zum Schutz dieser weltweit gefährdeten Tiergruppe.
(idw – Universität Wien, 04.01.2008 – DLO)