Materialforschung

Wie gut war Ötzis Kleidung?

Wissenschaftler untersuchen Tragekomfort in der Steinzeit

An den Hohensteiner Instituten in Bönnigheim verglich das Team von Professor Dr. Karl-Heinz Umbach (rechts) moderne Funktionstextilien hinsichtlich des Tragekomforts mit Nachbauten der Ausrüstungsgegenständen, die bei der Gletschermumie Ötzi gefunden worden waren. © Hohensteiner Institute

Wie gut hat die vor allem aus Fell und Leder gefertigte Kleidung die Menschen in der Jungsteinzeit vor Witterungseinflüssen geschützt? Wie schneidet die Kleidung von Ötzi und Co. im Vergleich zu modernen Funktionstextilien ab? Diese Fragen haben Forscher an den Hohensteiner Instituten im Rahmen des Projektes „Living Science – Steinzeit“ des Südwestrundfunks (SWR) untersucht. Ergebnis: Beispielsweise bei der Atmungsaktivität schnitt die steinzeitliche Lederkleidung im Vergleich zu moderner Funktionskleidung schlecht ab. Lediglich der Lendenschurz aus Hirschleder erreichte akzeptable Werte. Eine moderne Outdoor- oder Trekkingkleidung hätte die Leistungsfähigkeit Ötzis beim Jagen oder der Alpenüberquerung deshalb deutlich verbessert.

Aufgabe des Hohensteiner Forscherteams war es zu ermitteln, wie warm steinzeitliche Kleidungsstücke ihren Träger im Vergleich zu heutigen Produkten gehalten hatten, bei welcher Umgebungstemperatur oder Tätigkeit er zu stark schwitzte und wie lange er zum Beispiel jagen konnte, ohne erschöpft aufgeben zu müssen.

Dazu sollten den subjektiven Eindrücken von Freiwilligen, die im Sommer 2006 die Alpen überquert hatten, objektive Beurteilungen der Wärmeisolation, Atmungsaktivität sowie Wasser- und Winddichtheit der getragenen Kleidungsstücke gegenüber gestellt werden. Während die erste Probandengruppe für ihren mehrtägigen Marsch mit modernen Funktionstextilien ausgerüstet worden war, standen der zweiten Gruppe lediglich Rekonstruktionen von Ausrüstungsgegenstände zur Verfügung, wie man sie bei der rund 5.300 Jahre alten Gletscherleiche am Tisenjoch in den Ötztaler Alpen gefunden hatte.

Tragekomfort unter der Lupe

Das Team von Professor Karl-Heinz Umbach griff bei der objektiven Beurteilung des Tragekomforts auf standardisierte Untersuchungsmethoden mit dem Hohensteiner Hautmodell und der thermischen Gliederpuppe Charlie zurück.

Diese so genannten Thermoregulationsmodelle dienen dazu, den Tragekomfort von Bekleidung objektiv zu bestimmen, indem mit ihnen das Schwitzen und die Wärmeabgabe des Menschen nachgestellt wird. Auf der Basis der ermittelten Messwerte zur Wärmeisolation und zum Feuchtetransport ist es dann zudem möglich, verlässliche Vorhersagen über den Temperaturbereich zu treffen, für den Kleidungsstücke und -kombinationen, aber auch Schlafsäcke und Bettwaren, geeignet sind.

Bei der Beurteilung der Atmungsaktivität schnitt die steinzeitliche Lederkleidung im Vergleich zu moderner Funktionskleidung schlecht ab. Lediglich der Lendenschurz aus Hirschleder erreichte akzeptable Werte. © Hohensteiner Institute

Wichtige Faktoren für den Tragekomfort eines Kleidungsstückes beziehungsweise Systems ist dessen Fähigkeit, sowohl dampfförmigen wie auch flüssigen Schweiß aufzunehmen und vom Körper abzuleiten. Bei den entsprechenden Laboruntersuchungen zur Ermittlung der Atmungsaktivität und des Schweißtransportes zeigten sich die heutigen Funktionstextilien aus oder mit Chemiefasern den jungsteinzeitlichen Pendants aus Leder und Fell deutlich überlegen. So lag beispielsweise die Atmungsaktivität des modernen T-Shirts um das 5,5fache höher als die des Lederhemdes, dessen Material auch bei den Leggings und Armlingen Verwendung gefunden hatte. Beim Transport des flüssigen Schweißes weisen die Materialien aus der Neuzeit nach den Ergebnissen der Studie einen um rund 3,6fach höheren Wert auf.

Problem Feuchtigkeit

Das besonders weiche Hirschleder des Lendenschurzes überraschte die Forscher dagegen sowohl bei der Atmungsaktivität als auch beim Schweißtransport mit guten Werten, spielte im gesamten Kleidungssystem von der bedeckten Hautfläche her aber nur eine untergeordnete Rolle.

Die Ermittlung der Trocknungszeit am Körper zeigte laut der Studie eines der Hauptprobleme des steinzeitlichen Kleidungssystems: durch Regen oder das Schwitzen bei starker körperlicher Anstrengung eingebrachte Feuchtigkeit wurde nur langsam wieder an die Umgebung abgegeben. So benötigten das Lederhemd, die Leggings und Armlinge rund 6,1 Stunden zur Trocknung, der Lendenschurz circa 42 Minuten.

Da Wasser ein hervorragender Wärmeleiter ist, kühlt der Körper über feuchte Kleidung jedoch schnell aus. Zusammen mit dem Energieentzug durch die Verdampfung aus der trocknenden Kleidung stellten die langen Trocknungszeiten für Ötzi und seine Zeitgenossen nicht nur eine Einschränkung des Tragekomforts dar, sondern bildeten auch eine große gesundheitliche Gefahr (Unterkühlung). Im Vergleich dazu stellten sich die Trocknungszeiten des modernen Fleece-Pullovers und der Wanderhose mit circa 30 Minuten und des T-Shirts mit rund 19 Minuten als moderat dar, so die Forscher. Zudem erwies sich die Outdoorjacke aus Membran-Material gegen Feuchtigkeit von außen als undurchlässig, und das bei einer guten Atmungsaktivität.

Charlie im Einsatz

Kupfermann im Steinzeitgewand: Um die Wärmeisolation von Kleidungsstücken unter Einfluss von Körperbewegungen und Wind beurteilen zu können, bewegte sich die aus Kupfer gefertigte thermische Gliederpuppe Charly in einer Klimakammer. © Hohensteiner Institute

Als weiteren wichtigen Faktor für den Tragekomfort untersuchten die Hohensteiner Wissenschaftler mit Hilfe der thermischen Gliederpuppe Charlie die Wärmeisolation der steinzeitlichen und neuzeitlichen Kleidungssysteme bezogen auf verschiedene Körperregionen und Aktivitätsgrade – stehend, gehend – des Trägers bei einer für die Alpenregion üblichen Windbewegung von 7,2 Kilometer pro Stunde (km/h). In der Betrachtung des Gesamtkörpers wies Ötzis Fell- und Lederkleidung ohne Grasmantel eine geringfügig höhere Wärmeisolation (+8,7 Prozent) auf als die vom SWR gewählten modernen Kleidungsstücke. Dies ist jedoch nach Angaben der Wissenschaftler kein grundsätzliches Resultat. Bei der Auswahl der modernen Kleidung hatte das SWR-Team nämlich nicht auf spezielle Trekkingkleidung zurückgegriffen, sondern Artikel gewählt, die für den kürzeren Outdooreinsatz, zum Beispiel im Rahmen einer eintägigen Wanderung unter mittleren Klimabedingungen, konzipiert sind.

Seinen Untersuchungsergebnissen stellte Umbach deshalb solche für Trekkingskleidung gegenüber, die auf mehrtägige Aufenthalte im Freien bei extremen Klimabedingungen ausgerichtet ist und in ihrem Spezialisierungsgrad dem Kleidungssystem des steinzeitlichen Ötzis entspricht. In Relation zum Gewicht gebracht, wies allerdings die moderne Kleidung eine deutlich bessere Wärmeisolation auf als die Vergleichsmodelle aus Fell- und Leder. Bei den großen Strecken, die bei der Alpenüberquerung, ebenso wie bei Jagdausflügen, zurückzulegen waren, hat das für die erforderliche Wärmeisolation notwendige, zu transportierende Gewicht die Steinzeitmenschen deutlich körperlich belastet, so die Forscher.

Grasmantel als Sitzunterlage?

Mit ihren Untersuchungen wollten die Hohensteiner Wissenschaftler unter anderem auch klären, welchen Zweck der Grasmantel erfüllte, den der steinzeitliche Jäger Ötzi bei sich führte. Spekulationen, dass dieser vorwiegend als Wind- und Regenschutz fungierte, wurden durch die Laboruntersuchungen allerdings widerlegt. So erbrachte der Grasmantel lediglich eine Erhöhung der gesamten Wärmeisolation des Steinzeit-Outfits um 7,3 Prozent. Durch die grobe Flechtstruktur des Grasmantels konnten sowohl Wind als auch Feuchtigkeit, im Gegensatz zu moderner Outdoorkleidung, weitgehend ungehindert hindurchgehen. Das Team von Umbach geht deshalb davon aus, dass der Grasmantel ebenfalls als Sitzunterlage bei Pausen und in der Nacht genutzt wurde.

Auch Berührempfindungen, die von den verschiedenen Kleidungsstücken auf der Haut verursacht werden, wurden von den Hohensteiner Wissenschaftlern im Rahmen der Laboruntersuchungen zum Tragekomfort ermittelt. Zum Beispiel fallen insbesondere das steinzeitliche Hemd, die Leggings und Armlinge durch eine große Steifigkeit des verarbeiteten Leders in hautsensorisch negativer Weise auf. In der Zusammenfassung der thermophysiologischen – Wärmeisolation, Atmungsaktivität, Schweißtransport – und hautsensorischen Beurteilung ergab sich bei Aktivität des Trägers eine Tragekomfortnote von 4,9 oder mangelhaft für den Lendenschurz und 6,0 (= ungenügend) für das Lederhemd, Leggings und Armlinge.

Das moderne T-Shirt, der Fleece-Pullover, die Wanderhose sowie eine spezielle Trekkinghose schnitten nach Angaben der Wissenschaftler mit Noten von sehr gut bis befriedigend deutlich besser ab.

Komfortbereich der Kleidung ermittelt

Auf Basis der Untersuchungsergebnisse ermittelten die Hohensteiner Forscher den so genannten Komfortbereich für die einzelnen Kleidungssysteme, das heißt den Temperaturbereich, in dem sich der Träger komfortabel fühlt, ohne übermäßig zu schwitzen oder zu frieren. Die gegenüber der vom SWR gewählten modernen Kleidung etwas höhere Wärmeisolation der steinzeitlichen Fell- und Lederkleidung führt zum Beispiel beim Wandern dazu, dass Ötzi sein Outfit bei vergleichsweise etwas tieferen Temperaturen tragen konnte, ohne zu frieren.

So hielt die Kleidung Ötzi bei seiner Alpenüberquerung bei Wind um 7,2 km/h bei Temperaturen über ca. -5°C ausreichend warm. Daraus schließen die Wissenschaftler, dass es entweder vor 5.300 Jahren in den Alpen wärmer war als heute, oder dass Ötzi in der wärmeren Jahreszeit unterwegs war bzw. nicht noch mehr oder noch schwerere Kleidungsstücke mit sich tragen wollte oder konnte und somit starkes Frieren billigend in Kauf nahm.

Insbesondere bei körperlicher Anstrengung wie beim Wandern oder Jagen kann die moderne Kleidung ihre Vorteile bei der Atmungsaktivität und beim Schweißtransport ausspielen: Ausgehend von einer relativen Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent würde der Träger des modernen Kleidungssystems 2 erst bei 28°C übermäßig schwitzen, beim steinzeitlichen Kleidungssystem 1 ohne Grasmantel wäre dies bereits bei 11°C der Fall. Beim Jagen bei einer Umgebungstemperatur von +5°C drohte Ötzi bereits nach circa 45 Minuten ein Kreislaufkollaps, da sein Körper infolge der eingeschränkten Atmungsaktivität der Kleidung nicht mehr ausreichend gekühlt wurde.

Ötzis Kleidung mit Mängeln

Die bei Ötzi gefundene steinzeitliche Fell- und Lederkleidung weist für Temperaturen über -5 °C ausgelegte Wämeisolationswerte auf. Bei Phasen großer körperlicher Aktivität, wie beim Wandern und Jagen, führten die schlechte Atmungsaktivität und begrenzte Fähigkeit zum Transport flüssigen Schweißes dazu, dass die Leistungsfähigkeit des Trägers sehr schnell herabgesetzt wurde. Darüber hinaus stellten die langen Trocknungszeiten der Kleidung durch die deshalb drohende Auskühlung des Körpers eine gesundheitliche Gefahr dar, so das Fazit der Forscher.

Eine moderne Outdoor- oder Trekkingkleidung bietet hinsichtlich Tragekomfort und physiologischer Funktion insgesamt eine bessere Performance und hätte die Leistungsfähigkeit Ötzis bei Aktivitäten wie der körperlich anstrengenden Überquerung der Alpen und dem begleitenden Jagen deutlich verbessert.

Die Ergebnisse der bekleidungsphysiologischen Untersuchungen an den Hohensteiner Instituten fließen in das neue SWR-Format „living science“ ein.

(idw – Hohensteiner Institute, 29.05.2007 – DLO)

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