Geschwister verbindet meist eine besondere Beziehung: Sie sind einerseits bereit, einander selbstlos beizustehen, andererseits existiert eine tief verwurzelte Hemmung, sich sexuell miteinander einzulassen. Woran aber machen sich diese instinktiven Verhaltensmuster fest? Ist es nur soziale Prägung oder spielen doch biologische Faktoren eine Rolle? Eine neue, jetzt in „Nature“ erschienene Studie hat entscheidende Schlüsselreize ausfindig gemacht.
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Schon lange besagen fundamentale Theorien in Verhaltensforschung und Psychologie, dass die biologische Verwandtschaft die Basis der Familienzusammenhalts bildet. Das Bewusstsein des „vom gleichen Blut seins“ bildet die Grundlage nicht nur für das Zusammenhalten und Füreinander einstehen der Familienmitglieder, sondern verursacht auch tief verwurzelte Tabus wie die sexuelle Beziehung unter Geschwistern. Aber wie erkennen unsere Instinkte, dass wir es auch wirklich mit einem Verwandten zu tun haben? Welche Schlüsselreize legen von Kindheit an fest, wen wir als „dazugehörig“ betrachten?
Unbewusste Prägung durch Schlüsselreize
Ein Forscherteam der Universität von Kalifornien in Santa Barbara hat diese Frage in einer Studie an mehr als 600 Freiwilligen untersucht. Die Ergebnisse bestätigten, was auch zuvor schon angenommen worden war: Das Umfeld in der Kindheit bestimmt, wen wir als verwandt erkennen und folgt unbewusste Verhaltensmustern, die schon bei unseren Jäger- und Sammler-Vorfahren etabliert waren. Diese Verhaltensweisen sind damit weniger das Resultat von bewusster sozialer Prägung durch Eltern oder Mitmenschen, sondern vielmehr Muster, die sich als unbewusste Reaktion auf das Erkennen bestimmter Schlüsselreize für die Verwandtschaft entwickelt haben.
Bei älteren Geschwistern aktiviert offenbar der Anblick der Mutter, die sich um die jüngeren Geschwister kümmert, im Gehirn einen Mechanismus, der sowohl Altruismus, als auch sexuelle Hemmung gegenüber dem Geschwisterkind auslöst. Bei jüngeren Geschwistern dagegen scheint die Zeit ausschlaggebend zu sein, die sie zusammen mit ihren anderen Geschwistern zusammenleben, von der frühen Kindheit bis zur Pubertät. Diese Lebensgemeinschaft löst dabei im Gehirn die Verhaltensmuster des Altruismus und der sexuellen Hemmung sowohl gegenüber genetisch verwandten als auch gegenüber Stiefgeschwistern aus.
Nicht allein kulturell bestimmt
Nach Ansicht der Forscher hat sich sowohl der Altruismus zwischen Geschwistern als auch ihre instinktive Abneigung gegenüber einer sexuellen Beziehung miteinander durch natürliche Selektion entwickelt. „Dem alten Denken nach gilt der Darwinismus für Menschen nur im körperlichen, nicht aber im sozialen Sinne“, erklärt John Tooby, Professor für Anthropologie an der Universität von Kalifornien. „Jetzt sehen wir die Entwicklung eines Mechanismus, der wichtige Aspekte des menschlichen Sozialverhaltens reguliert.“ In vielen Tierarten sind bisher ähnliche Mechanismen gefunden worden, ihre Übertragung auf den Menschen galt jedoch immer als umstritten.
Mit der aktuellen Studie haben die Forscher dazu beigetragen, diese Debatte nun zu beenden. Denn ihre Daten deuten darauf hin, dass nicht rein kulturelle, bewusste Tabus ausschlaggebend für die Entwicklung dieser Verhaltensmuster sind, sondern vielmehr unbewusste, im Laufe der Evolution etablierte Schlüsselreize und Prägungen. Die Ergebnisse könnten gleichzeitig auch dazu beitragen, potenzielle Inzestopfer besser schützen zu können. „Geschwister, die lange Zeit getrennt gelebt haben, sind diesen Schlüsselreizen nicht ausgesetzt gewesen, so dass ihr Gehirn den anderen nicht als verwandt erkennt.“
(University of California – Santa Barbara, 16.02.2007 – AHE)