Evolution

Neuer „Ast“ am Baum des Lebens entdeckt

Winzige Einzeller spalteten sich vor rund einer Milliarde Jahren ab

Telonemia © Ola Sæther / University of Oslo

Eine völlig neue Gruppe von Lebensformen haben Wissenschaftler eines internationalen Teams im Meer entdeckt. Wie erste Genanalysen zeigen, gehören die Einzeller der Gruppe Telonemia zu einem Zweig der Organismen, der sich vor rund einer Milliarde Jahren von den Vorfahren der höheren Lebewesen abgetrennt hat.

Die ersten Arten von Telonemia wurden bereits im Jahr 1913 entdeckt, doch zu dieser Zeit konnten die Forscher die Lebewesen phylogenetisch nicht einordnen. Ihre evolutionäre Stellung blieb unklar. Bis vor kurzem hielt man die winzigen Organismen zudem für äußerst selten, glaubte, dass sie nur in ganz vereinzelten Meeresregionen zu finden sind. Inzwischen allerdings sind Vertreter von Telonemia-Arten nahezu weltweit in den Ozeanen entdeckt worden. Biologen der Universität von Oslo, gemeinsam mit spanischen, französischen und dänischen Kollegen haben jetzt erste Gene dieser Organismengruppe analysiert. Daraus ergibt sich, dass Telonemia tatsächlich eine eigene Organismengruppe an der Basis der Eukaryoten, der Zellkern tragenden Einzeller darstellt.

“Aus dem, was wir bisher über ähnliche Organismen wissen, scheint diese neue Gruppe eine noch größere genetische Vielfalt aufzuweisen als alle bekannten Genome von Säugetieren, Fischen, Vögeln und Reptilien”, erklärt Kamran Shalchian-Tabrizi, Leiter der Studie und Forscher am Zentrum für Ökologie und Evolutionsforschung der Universität Oslo.

Nachweis durch DNA

Obwohl nach neuesten Erkenntnissen bis zu tausend Telonemia-Zellen in einem Liter Meerwasser zu finden sind, ist ihr Nachweis keine einfache Aufgabe. Mit nur vier bis 16 Mikrometern Größe erscheinen sie nur als winzige Punkte in normalen Lichtmikroskopen. Erst im Elektronenmikroskop werden die Strukturen und Körperbestandteile sichtbar. Da die winzigen Organismen auch durch grobmaschigere Planktonnetze durchrutschen, setzten die Forscher heute eine ganz andere Methode ein, um Telonemia nachzuweisen: Sie suchen nach ihrer DNA-Signatur im Probenwasser.

Kjetill S. Jakobsen und Kamran Shalchian-Tabrizi © Ola Sæther / University of Oslo

“Indem wir Mikroskopie und Zellkulturen nutzen, können wir die DNA-Signaturen in Wasserproben den verschiedenen Organismen zuordnen. Im Prinzip kehren wir damit die klassische Methode des Einzellernachweises um“, erklärt Planktonforscher Dag Klaveness.

Erstaunlich viele Gene

Bisher wurden allein durch die norwegischen Forscher bereits acht verschiedene Telonemia-Gruppen mit jeweils mindestens einer Art entdeckt. Nur wenig der Gene des Einzeller sind bisher analysiert und bekannt, Forscher vermuten jedoch, dass der winzige Organismus insgesamt rund 10.000 bis 30.000 Gene besitzt. Erstaunlicherweise, denn im Vergleich dazu besteht das menschliche Genom aus gerade mal 25.000 Genen.

“Obwohl wir sicher sind, dass Telonemia einen eigenen Zweig des Organismenstammbaums einnimmt, sind wir noch nicht ganz sicher, wo dieser Zweig sitzt”, so Shalchian-Tabrizi. „Wenn wir erst einmal sein gesamtes Genom entschlüsselt haben, werden wir genau sagen können, wo Telonemia sich von anderen Organismen abspaltete.“

Genanalyse öffnet Fenster in Vergangenheit

Obwohl es große genetische Unterschiede zwischen Mensch und Mikrobe gibt, existieren doch einige gemeinsame Gene zwischen beiden. Solche Unterschiede nutzen die Forscher, um die Position der Organismen im Stammbaum näher zu bestimmen. Leistungsstarke Computerprogramme vergleichen dafür automatisch die Gensequenzen und errechnen aus der Anzahl der unterschiedlichen Mutationen den Verwandtschaftsgrad.

“Indem wir die Veränderungen des genetischen Materials in allen Hauptästen des Stammbaums analysieren, können wir feststellen, wann sich bestimmte Eigenschaften entwickelten oder wieder verloren gingen“, so der Osloer Genforscher Kjetill S. Jakobsen. „Auf diese Weise können wir sogar Eigenschaften unserer frühen Vorfahren rekonstruieren, sehen, wie sich Anpassungen entwickelten, Arten entstanden und sich Gene gruppierten. Die Genanalyse ermöglicht es uns auch, Fragen nach evolutionären Ereignissen zu beantworten und zu verstehen, wie biologische Prozesse in Tieren und Menschen ablaufen.“

Seiner Ansicht nach könnte insbesondere auch die medizinische Forschung von den neuen Erkenntnissen profitieren. Denn wenn geklärt werden könnte, wie Telonemia es schafft, andere lebende Zellen so effektiv zu zerstören und zu fressen, könnte dieses Wissen möglicherweise auch für neue Therapieansätze genutzt werden.

Wählerische Esser

“Telonemia ernähren sich von anderen einzelligen Organismen und planktonischen Algen und werden selbst wiederum von tierischem Plankton gefressen”, erklärt Kjetill S. Jakobsen von der Universität Oslo. „Wir sind davon überzeugt, dass diese Gruppe eine zentrale Rolle in der Nahrungskette des Ozeans spielt und ein sensibler Bestandteil der größeren ökologischen Wechselwirkungen ist.“ DA Telonemia auch Algen frisst, könnten die kleinen Lebewesen auch dazu beitragen, bestimmte Arten von Algenblüten einzudämmen und zu kontrollieren.

Um die Lebensgewohnheiten des Organismus genauer untersuchen zu können, kultivieren die Wissenschaftler Telonemia im Labor. Doch das ist alles andere als einfach, denn die Winzlinge sind wählerische Esser. Acht Jahren benötigten die Forscher um Professor Klaveness, um geeignete Kulturmethoden zu entwickeln. Inzwischen wurden Vertreter der Telonema nicht nur in Meerwasser, sondern auch in ersten Süßwasser-Proben entdeckt. Die Wissenschaftler wollen nun weitere Gewässer nach den Organismen durchsuchen.

(University of Oslo, 27.12.2006 – NPO)

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