Neurobiologie

Gehirnhälften anders verbunden als gedacht

Neue Methode enthüllt Verlauf wichtiger Nervenverbindungen im menschlichen Gehirn

Faserbahnen durch den weißen Balken einer gesunden Versuchsperson © MPI für biophysikalische Chemie

Die beiden Hälften des menschlichen Gehirns sind über eine zentrale Schaltstelle verbunden -den weißen Balken. Doch wie in ihm die Fasern genau verlaufen und welche Funktion sie haben, war bisher nicht genau bekannt. Jetzt haben Wissenschaftler mit einer neuen bildgebenden Methode erstmals die genaue Topographie des Balkens entschlüsselt und dabei deutliche Abweichungen gegenüber den bisherigen Annahmen festgestellt.

Die Nervenzellen der grauen Hirnsubstanz im menschlichen Gehirn sind auf Tausendfache Weise untereinander verschaltet. Zwischen weiter entfernt liegenden Zentren – beispielsweise in der Großhirnrinde – bilden sich dabei auch dickere Faserbahnen aus, die viele einzelne Nervenfortsätze in einem gemeinsamen Strang über größere Distanzen bündeln. Die Gesamtheit dieser Faserverbindungen ist als weiße Hirnsubstanz bekannt. Die auffälligste Struktur der weißen Hirnsubstanz ist der weiße Balken (Corpus Callosum) in der Mitte des Gehirns. Er verbindet die beiden Hirnhälften und wird von Nervenfasern gebildet, die in der Regel gleichartige Funktionszentren in der jeweils gegenüberliegenden Hirnhälfte miteinander verknüpfen.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen haben nun herausgefunden, dass die bisherigen Annahmen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Die Forscher benutzten eine neue Technik der bildgebenden Magnetresonanz-Tomografie, die die Beweglichkeit der Wassermoleküle in den Zellen bestimmt und ihre Vorzugsrichtung mit der Richtung der zugrunde liegenden Nervenfaserbahn gleichsetzt. Bei gesunden Versuchspersonen ergaben sich zum Teil erhebliche Abweichungen von den bislang bekannten Daten – beispielsweise bezüglich der Bahnen aus den motorischen und sensorischen Hirnrinden. Die genaue Kenntnis der Topographie aller Bahnen im weißen Balken ist für viele Fragestellungen von erheblicher Bedeutung, insbesondere für die Untersuchung von Hirnerkrankungen.

Funktionszuordnung bisher nicht möglich

In der konventionellen, anatomischen Magnetresonanz-Tomografie (MRT) des Gehirns wird die weiße Hirnsubstanz einheitlich dargestellt. Faserverläufe können nicht aufgelöst und einzelnen Verbindungen nicht zugeordnet werden. Dies gilt auch für den weißen Balken. In den Lehrbüchern findet sich ein Schema von Witelson, das allerdings im wesentlichen aus post-mortem Studien an den Gehirnen von nichtmenschlichen Primaten entwickelt wurde und nur geometrische Anhaltspunkte für Faserbahnen aus größeren Bereichen der Hirnrinde angegeben soll. Eine klare Funktionszuordnung ist mit diesem Schema nicht verbunden. Dieses Defizit konnte nun von den Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie behoben und zugleich die genaue Anordnung der kreuzenden Bahnen aus allen Bereichen der Hirnrinde gesunder Versuchspersonen aufgeklärt werden.

Wasserbewegung verrät Faserbahnen

Die Göttinger Forscher nutzten eine neue Technik der bildgebenden MRT, die die Beweglichkeit der Wassermoleküle im Hirngewebe sowie ihre Vorzugsrichtung aufzeichnet. Sie stützten sich dabei auf eine selbst entwickelte Messtechnik, die im Gegensatz zu der bisher fast ausschließlich genutzten Methode keinerlei Verzerrungen zwischen den anatomischen Bildern und den Karten der Wasserbeweglichkeit aufweist. Damit ergibt sich für jeden anatomischen Referenzpunkt des Gehirns eine bestimmte Richtung, die mit der Richtung des Faserbündels gleichgesetzt wird. Der Vorstellung liegt die begründete Annahme zugrunde, dass sich das Wasser sehr viel leichter entlang der Nervenfortsätze als senkrecht dazu bewegt. Mithilfe eines speziell dafür entwickelten Programms lassen sich anschließend, gewissermaßen von Punkt zu Punkt, die einzelnen Faserverläufe im Computer rekonstruieren.

Das neue Verfahren wurde jetzt erstmals eingesetzt, um eine umfassende Charakterisierung des weißen Balkens im intakten menschlichen Gehirn zu erzielen. Der in anatomischen Aufnahmen homogene weiße Balken wurde vollständig in Faserbahnen aufgelöst, die Verbindungen zu allen anatomisch gut identifizierbaren Arealen der Großhirnrinde herstellen. Dabei gingen die Forscher so vor, dass der Computer jeweils diejenigen Bahnen bestimmte, die sowohl den weißen Balken als auch ein ausgewähltes Gebiet in der Großhirnrinde kreuzen.

Abweichungen gegenüber bisherigem Bild

Auf diese Weise ist ein neues Bild von der geordneten Reihung aller Faserbahnen des weißen Balkens entstanden, das in die Lehrbücher eingehen wird. Es ist anatomisch und teilweise auch funktionell begründet und weist gegenüber den bisherigen Vorstellungen zum Teil erhebliche Abweichungen auf. Zwar kreuzen auch jetzt noch Bahnen, die frontale Areale des Gehirns miteinander verbinden, im vorderen Bereich des weißen Balkens, während Bahnen der visuellen Areale im hinteren Teil des Gehirns auch im hinteren Bereich des Balkens verlaufen.

Doch insbesondere die Lage und Größe der Bahnen aus der motorischen und sensorischen Hirnrinde sind eindeutig anders (weiter hinten) zugeordnet als ursprünglich vermutet. Ähnliches gilt für die Bahnen, die die jeweiligen rechten und linken Areale der prämotorischen und präfrontalen Hirnrinde verbinden. Das bisherige Schema beruht mehrheitlich auf Primatendaten. Es darf daher vermutet werden, dass die evolutionäre Entwicklung der frontalen Hirnrinde vom Affen zum Menschen zum Teil für diese Unterschiede verantwortlich ist. Für den Menschen ist eine genaue Kenntnis der Topographie des weißen Balkens nicht nur im Hinblick auf grundlegende biologische Fragestellungen, sondern vor allem für klinische Untersuchungen neurodegenerativer Hirnerkrankungen von offensichtlicher Bedeutung.

Das Projekt wurde durch die Max-Planck-Gesellschaft und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Göttinger Bernstein Centers for Computational Neuroscience unterstützt. Die Ergebnisse wurden am 18. Juli in der elektronischen Ausgabe der Zeitschrift NeuroImage veröffentlicht.

(MPG, 31.07.2006 – NPO)

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