Alkoholabhängigkeit ist Krankheit, die immer wieder durch Rückfälle gekenzeichnet ist – weniger als ein Fünftel aller Patienten, die sich einer Therapie unterziehen, schaffen es, trocken zu bleiben. Eine neue Studie hat jetzt gezeigt, dass so genannte Aversionsmittel den Therapieerfolg drastisch erhöhen können. Mehr als die Hälfte Alkoholkranken schaffte damit den dauerhaften Absprung aus der Sucht.
Bisher gibt es nur wenige und widersprüchliche Studien, die sich mit den langfristigen Ergebnissen von Alkoholismustherapien beschäftigen. Eine Neun-Jahresstudie des Max-Planck-Instituts für experimentelle Medizin und der Georg-August-Universität Göttingen hat untersucht, welchen Einfluss die Aversionsmittel Disulfiram und Calciumcarbimid auf das Auftreten von Abstinenz, kurzfristigen Alkoholausrutschern („lapses“) oder schweren Rückfällen bei chronisch alkoholkranken Patienten haben.
„Obwohl üblicherweise bis zu 30 Prozent alkoholkranker Patienten angeben, zwei bis drei Jahre nach einer Alkoholismustherapie abstinent zu sein,“ sagt Hannelore Ehrenreich, Leiterin der Arbeitsgruppe Klinische Neurowissenschaften am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen, „zeigen objektive Laboranalysen, dass nur sechs bis 20 Prozent der Patienten zwei Jahre nach Therapieende wirklich abstinent sind. Diese Zahlen spiegeln die klinische Erfahrung wider, dass Alkoholabhängigkeit eine chronische und zu Rückfällen führende Krankheit ist. Unsere Untersuchung ist die erste Studie über die langfristige überwachte Verabreichung von Alkoholaversiva und beschäftigt sich vor allem mit ihrer psychologischen, und weniger mit der pharmakologischen Wirkung.“
Aversionsmittel erzeugen „innere Vergiftung“
Die Göttinger Forscher analysierten Daten, die sie von 1993 bis 2002 gesammelt hatten. 180 chronisch alkoholkranke Patienten wurden in ein zweijähriges umfassendes integratives Behandlungsprogramm aufgenommen, die Ambulante Langzeit-Intensivtherapie für Alkoholkranke (ALITA). Ein wesentliches Therapie-Element dieses Programms ist die überwachte Einnahme von Disulfiram oder Calciumcarbimid, die durch sorgfältige psychoedukative und psychotherapeutische Interventionen vorbereitet und begleitet wird.
Die Einnahme von Calciumcarbimid beziehungsweise Disulfiram erzeugt bei den Patienten eine Alkoholunverträglichkeit. Da diese Stoffe das alkoholabbauende Enzym Acetaldehyddehydrogenase hemmen, häuft sich bei Alkoholkonsum toxisches Acetaldehyd im Körper an – es entsteht eine „innere Vergiftung“, die so genannte „Disulfiram-Alkohol-Reaktion“. Unmittelbare Auswirkungen sind Erröten, Blutdruckentgleisung, Pulsrasen, Übelkeit, Erbrechen und gelegentlich sogar Kreislaufkollaps.
50 Prozent blieben trocken
Um die langfristigen Ergebnisse von ALITA beobachten zu können, analysiertendie Forscher einen Zeitraum von sieben Jahren nach der zweijährigen Therapie. Im Fokus stand dabei die Frage, welchen Einfluss Disulfiram und Calciumcarbimid auf die Rückfallprävention und die Aufrechterhaltung von Langzeitabstinenz haben.
„Die Patienten wiesen neun Jahre nach Beginn der ALITA-Therapie eine Abstinenzrate von über 50 Prozent auf,“ sagt Ehrenreich. „Die langfristige Einnahme von Alkoholaversiva wurde sehr gut vertragen. Bei Patienten, die Alkoholaversiva länger als 20 Monate einnahmen, war die Abstinenzrate höher als bei Patienten, die die AA zwischen dem 13. und dem 20. Monat absetzten.“
Psychologische Wirkung im Vordergrund
Drei wesentliche Ergebnisse der Studie weisen eher auf eine psychologische als auf eine pharmakologische Wirkung hin. „Erstens: Je länger ein Patient Alkoholaversiva einnimmt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er kontinuierlich abstinent bleibt, auch nachdem er das Alkoholaversivum abgesetzt hat,“ erklärt Ehrenreich. „Zweitens: Die Dosis des Alkoholaversivum ist für seine Wirksamkeit genauso irrelevant wie das Erleben einer Disulfiram-Alkohol-Reaktion, die eintritt, wenn man nach der Einnahme von Disulfiram Alkohol konsumiert. Drittens: Ein Schein-Alkoholaversivum, also ein pharmakologisch inaktives Medikament, ist genauso wirksam wie Disulfiram oder Calciumcarbimid, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Anwendung des Alkoholaversivum wiederholt erklärt und ständig angeleitet und bestärkt wird.“
„Die psychologische Rolle, die Alkoholaversiva bei der Rückfallprävention spielen, ist einer der interessantesten Aspekte der Studie,“ fügt Brewer an. „Diese Ergebnisse unterstützen die Hypothese, dass anhaltende Abstinenz, die mit Disulfiram erzielt wird, automatisch dazu führt, dass sich eine Abstinenzgewohnheit konsolidiert. Übung macht den Meister. Je länger ein alkoholkranker Mensch abstinent ist, desto länger wird er abstinent bleiben.“
„Aggressive Nachsorge“ gegen Rückfälle
„Obwohl die Studie den Fokus auf Alkoholaversiva richtet,“ sagt Ehrenreich, „sind die anderen Behandlungselemente von ALITA genauso wichtig und helfen, die psychologische Rolle der Alkoholaversiva bei der Rückfallprävention zu erklären. Die Therapieelemente umfassen strenge Abstinenzorientierung, hochfrequente individuelle Kurzgesprächskontakte, unterstützendes und nicht konfrontatives Therapeutenverhalten, Therapeutenrotation, Notrufbereitschaft und Kriseninterventionen, soziale Reintegration, Langzeitbehandlung, nachfolgende lebenslange Kontrolluntersuchungen sowie ein Rückfallkonzept, das den Alkoholrückfall als Notfall begreift.“
Sie erläutert: „Dieses Rückfallmodell hat uns dazu geführt, eine Intervention zu entwickeln, die wir Aggressive Nachsorge nennen. Sie hat die Aufgabe, beginnende Rückfälle sofort zu beenden und drohende Rückfälle zu verhindern. Patienten, die einen Therapiekontakt versäumt haben, werden aufgefordert, die Therapie weiterzuführen oder die Abstinenz wieder aufzunehmen. Beispiele aggressiver Nachsorge sind spontane Hausbesuche, Telefonanrufe, Briefe sowie das Einbeziehen von nahen Freunden und Verwandten.“
„Kontrolle und Überwachung mögen arbeitsintensiv erscheinen,“ bemerkt Brewer, „aber wenn das Personal ohnehin einsatzbereit ist – wie es in Klinken der Fall ist – oder wenn Familienmitglieder, Arbeitskollegen oder die Bewährungshilfe einbezogen werden können, was eigentlich immer geschehen sollte, dann benötigt man zur Überwachung kein zusätzliches Personal. Die überwachte Verabreichung von Disulfiram kann besonders für solche Patienten erfolgreich sein, bei denen konventionelle Therapieangebote nicht gewirkt haben.“
„Aus unseren Ergebnissen lässt sich eine zentrale Schlussfolgerung für die klinische Versorgungspraxis ziehen,“ sagt Ehrenreich. „Schwere Alkoholabhängigkeit ist eine chronische und zu Rückfällen neigende Krankheit. Langfristige Abstinenz und dauerhafte Rückbildung alkoholassoziierter Folgeschäden können nur dann garantiert werden, wenn die Patienten an einer Langzeitbehandlung teilnehmen, auf die lebenslange kurze Kontrolluntersuchungen und regelmäßige Besuche von Selbsthilfegruppen folgen. Die überwachte Einnahme von Alkoholaversiva lässt sich einfach und erfolgreich in ein umfassendes, strukturiertes und ambulantes Langzeit-Therapieprogramm integrieren.“
(MPG, 10.01.2006 – NPO)